Sonntag, 20. September 2020

For Sama

Etwas vom Eindrücklichsten, was ich bisher gesehen habe, war der Dokumentarfilm „For Sama“ der Journalistin Waad al-Kateab.

Die junge Journalistin Waad al-Kateab ist nach dem Studium im besetzten Aleppo geblieben, weil sie und ihr Mann daran geglaubt haben, dass ihr Widerstand gegen Assad irgendwann siegen würde. Und weil ihr Mann als Arzt die Verletzten versorgte und die Menschen nicht im Stich lassen wollte. Beide sind bis zuletzt geblieben, bis sie von Assads Regime zur Evakuierung gezwungen wurden. Nur durch Zufall und Glück sind sie bei dem entscheidenden Kontrollposten durchgekommen, sonst wären sie vom Assad-Regime mit Sicherheit getötet worden. Dass man schon zu Beginn weiss, dass die Familie (Sama wurde während des Krieges geboren, ein zweites Kind war unterwegs, als sie Aleppo verliessen), ist der einzige Trost in diesem erschütternden Dokument. Heute leben sie in London. 

Die Journalistin hat während 5 Jahren laufend gefilmt, was in ihrem Leben und in ihrem Umfeld geschieht. Dass der Film so nah an den Menschen ist, dass er das Geschehen aus einer absolut persönlichen Perspektive und in Echtzeit zeigt, macht ihn so aussergewöhnlich und wertvoll. Die Journalistin kommentiert darin das Geschehen, indem sie zu ihrer Tochter spricht. Damit Sama einmal begreifen würde, warum ihre Mutter geblieben ist: Um zu zeigen, was für ein Unrecht geschieht und mit welcher Brutalität das Assad-Regime - mit tatkräftiger Unterstützung der Russen - die Menschen wahllos tötet: Kinder, alte und junge Menschen, Zivilisten, ganze Familien. Sie drehte den Film, damit so etwas nie wieder passiert, in der Hoffnung, dass das Dokument die Menschen aufrütteln wird, in der Hoffnung, dass die internationale Weltgemeinschaft die Menschen in Aleppo nicht im Stich lässt…

Man erlebt das Grauen des Krieges in Echtzeit, sieht, wie die Menschen verletzt ins Spital gebracht werden, darunter viele Kinder. Es sind Nahaufnahmen mitten aus dem Geschehen. Wenn eine Bombe einschlägt, wird das Bild schwarz, danach die Schreie, das Chaos, das Grauen, das Blut… Man sieht die Toten, darunter Kinder und Jugendliche, erlebt die Angst und die Trauer der Menschen, sieht die fast gänzlich zerbombte Stadt. Man weint die ganze Zeit. Und danach ist man nicht mehr fähig zu sprechen. Aber man muss es sehen. Man muss es sich antun, damit diese Frau dieses absolut erschütternde Dokument  nicht umsonst gedreht hat. Man muss es sehen um zu begreifen, was Menschen aushalten müssen und warum sie dennoch bleiben - bis nur noch die Wahl zwischen Flucht und Tod bleibt. Man muss den Film sehen, allein schon aus Solidarität mit diesen mutigen Menschen, die ihr Leben tagtäglich riskierten, um für die Freiheit und die Würde der Menschen in Syrien zu kämpfen.




Samstag, 12. September 2020

Kirche und Kunst

Gedanken in der Notre-Dame von Paris

Ich bin gerne in diesen grossen Kulturdenkmälern, egal wo, und lasse mich inspirieren, von der Geschichte, die sie beinhalten, von der Atmosphäre, die sie ausstrahlen. Ich geniesse den Raum, die Grösse, die Ruhe, die Schönheit, aber es sind keine religiösen Gefühle dabei, auch wenn diese Bauwerke im Namen der Religion entstanden sind.  

Zur Besichtigung einer Kirche gehören normalerweise auch die darin versammelten sakralen Kunstwerke. Aber so gross mein Respekt vor dem künstlerischen Wert eines Werkes ist: Wirklich berührt werde ich in den seltensten Fällen, die Bilder sind mir zu fremd. Selbst die berühmten, wie beispielsweise die Assunta von Tizian in der Frari-Kirche in Venedig. Die Darstellung einer Madonna, die gen Himmel fährt, vom gekreuzigten Jesus und von der heiligen Maria mit dem Kind, von Zorn, Strafe, Vergebung Gottes, von Himmel und Hölle, von elenden Sündern, die in der Verdammnis landen und von verklärten Gottesanbetern stösst mich ab. Ich muss mich zwingen, geistig zu abstrahieren, muss mir sagen, dass es Auftragswerke sind, erschaffen zu einer Zeit, als die Menschen noch keinen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen hatten.

Meine Distanz zur sakralen Kunst hat mit meiner Abneigung gegenüber der Kirche als Institution zu tun. Und mit meiner persönlichen Geschichte. Mein Weg aus einem freikirchlichen Milieu über die selbst gewählte Konfirmation in der reformierten Kirche bis zum Austritt war ein langer und nicht immer einfacher Ablösungsprozess. Kaum etwas ist so tief verankert wie die von den Eltern geprägte, religiöse Vorstellung, die das Kind schon im frühesten Alter unbewusst «aufsaugt». Nach meinem Austritt aus der Kirche begnügte ich mich lange damit, Agnostikerin zu sein. Heute bin ich Atheistin. Als folgerichtige Konsequenz.

Ich höre oft, ohne Religion gebe es keine Moral. Dieser Meinung bin ich nicht. Nicht die Moral ist das Entscheidende. Auch nicht die religiöse. Die Moral unterliegt der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung und ist dem Wandel der Zeit unterworfen. Und oft handelt es sich bei der vermeintlichen Moral lediglich um den kleinlichen Moralzeigefinger, mit dem jemand, der nicht der Norm entspricht, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird.

Ich denke: Allgemein gültigen Bestand kann nur eine Ethik haben, die auf der Basis der Vernunft definiert wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Die Erkenntnis, dass wir Menschen alle die gleichen primären Bedürfnisse und Sehnsüchte haben, dass wir letztlich alle im gleichen Boot sitzen und aufeinander angewiesen sind. Und dass wir deswegen einen Weg finden müssen, wie wir unser Zusammenleben am besten organisieren, so, dass jeder zu seinem Recht und niemand zu Schaden kommt oder diskriminiert wird.

Was mich ärgert: Gerade die kirchliche Macht, welche die Moral selbstgerecht für sich gepachtet hat, verhindert mit ihrer rückständigen Engstirnigkeit, dass Menschen lernen, respektvoll und vernünftig miteinander umzugehen.

Der Philosoph, Humanist und Atheist Michael Schmidt-Salomon stellt in seinem Buch «Jenseits von Gut und Böse» folgende Fragen: «Was wäre, wenn uns gerade die Unterscheidung von Gut und Böse ins Unglück stürzte? Wenn wir ohne Moral die «besseren» Menschen wären? Und wenn wir uns von der Idee der Willensfreiheit lösen müssten, um den «blinden Instinkt der Rache» zu überwinden?» Von ihm stammt auch das «Manifest des evolutionären Humanismus», einem «Plädoyer für eine zeitgemässe Leitkultur», darin enthalten die «zehn Angebote», Spielregeln für ein ethisch verantwortliches menschliches Miteinander auf dem Fundament wissenschaftlicher Erkenntnis.

Mir ist klar, dass Religiosität oder Spiritualität für viele Menschen ein zentrales Bedürfnis ist. Auch wenn ich mich ab und zu wundere, wie selbst Intellektuelle manches aus der Bibel wörtlich auffassen, was heute nur noch sinnbildlich nachzuvollziehen ist. Wenn überhaupt. Noch mehr wundere ich mich allerdings über die vielen selbstgebastelten esoterischen Abstrusitäten, die auch noch geglaubt werden. Gerade grassieren wieder zahlreiche Verschwörungstheorien, wie immer in unsicheren Zeiten. Bei allem Verständnis für die jeweilige persönliche Ursache: Hier hilft nur eine klare und eindeutige Gegenposition. Nicht zuletzt in der Verteidigung der Wissenschaft, die von einer zunehmenden Zahl von Menschen bestritten wird, weil auch die Wissenschaft keine abschliessenden Antworten liefert. Bildung besteht unter anderem darin zu lernen, mit den Verunsicherungen und Ambivalenzen des Lebens zu leben. Sie ist ein Mittel gegen die Irrationalität.

Irrational ist allerdings auch, den künstlerischen Wert sakraler Kunst nicht von ihrer bildlich dargestellten Aussage zu abstrahieren. Ich weiss das. Trotzdem: Es gelingt mir nicht. Weil diese Darstellungen mich jedes Mal daran erinnern, was die Religion als Instrument der Mächtigen in Kirche und Staat für Schaden angerichtet hat im Lauf der Geschichte. Und es noch heute tut. Wenn ich an die gesellschaftliche Rückständigkeit des Vatikans, an die rassistischen Evangelikalen in den USA oder an den politischen Islam denke, werde ich wütend.

Aber das ist ein anderes Thema.

 

Keine Lösung ohne Konsens

Bei einem Besuch am Checkpoint Charlie in Berlin wurde mir wieder mal bewusst, mit welcher Härte und sektiererischen Verbissenheit das DDR-Regime seinen sozialistischen Machtapparat einsetzte – gnadenlos bis zum Schluss. Ich bewundere noch heute den Mut der Menschen, die für die Freiheit ihr Leben riskiert und oft auch verloren haben. Und ich schäme mich für die Naivität, mit der wir damals für eine idealisierte kommunistische Gesellschaft auf die Strasse gingen, ohne auch nur die geringste Ahnung von der Realität zu haben. Wenn jemand anderer Meinung war, fanden wir ihn dumm und rückständig und dachten, wir wüssten es besser. Was mindestens genauso dumm war.

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Obwohl wir damals verblendet waren in unserem idealistischen Eifer, die Welt zu verbessern, so hat diese Zeit – zumindest für mich – trotzdem einen enormen Wert. Für mich war es eine Denkschule, ohne die ich vielleicht nie gelernt hätte, die Dinge nicht nur aus der eigenen, sondern auch aus einer gegenteiligen Perspektive zu analysieren. Ohne die ich womöglich nie gezwungen gewesen wäre, meine Wertvorstellungen, mit denen ich aufgewachsen bin, zu hinterfragen. Die 68er erweiterten meine Sicht auf die Welt. Dafür bin ich sehr dankbar, auch wenn ich heute viele Ansichten nicht mehr teile.

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Die Langzeitfolgen des Zusammenbruchs des DDR-Regimes, aber auch die Fehler, die der Westen nach der Wende gemacht hat, wirken bis heute nach. Die Menschen mussten viel zu viel auf einmal verkraften, nicht nur ihr marodes sozialistisches System ist praktisch über Nacht zusammengebrochen, für viele auch der Glaube daran. Vom neuen, kapitalistischen, das ihnen der Westen selbstherrlich aufgezwungen hat, profitierten nicht sie, sondern in erster Linie die Investoren aus dem Westen. Die Demütigungen, die Brüche in den Lebensläufen, die damit verbunden waren, gehören zweifellos mit zu den Ursachen für die heutige Affinität des Ostens gegenüber der rechtsextremen AfD. Es wäre zu einfach, diese Menschen zu verurteilen, schon gar nicht aus der Sicht einer privilegierten Generation des Westens, die wir in einer Zeit gelebt haben, in der es immer nur aufwärts ging. Aber genauso falsch ist es, ihnen damit indirekt Recht zu geben, wie das manche Politikerinnen und Politiker in ihrem Opportunismus tun. Denn die AfD ist eine rechtsextreme Partei. Dagegen hilft nur die klare und eindeutige Gegenposition.

Eine gerechte Welt zu schaffen ist eine Illusion, wie man irgendwann im Leben begreift. Trotzdem: Historisch gesehen war die Kurve bisher tendenziell steigend, bei allen Rückschlägen.

Heute besteht die Gefahr, dass die Menschheit die Grundlagen ihrer Existenz nachhaltig zerstört. Wir werden immer mehr Menschen auf dieser Welt und verbrauchen immer mehr Ressourcen, Arbeitsplätze gehen verloren, der Solidaritätsgedanke nimmt ab- und der Verteilkampf zu. Die Schere, nicht nur zwischen arm und reich, auch zwischen Mittelstand und Superreichen, klafft schon jetzt fast pervers weit auseinander, Natur und Umwelt leiden, das Klima verändert sich. Die Folgen sind absehbar, werden aber aus dem Bewusstsein verdrängt.

Zu glauben, es gebe eine bestimmte Ideologie als taugliches Rezept, ob von rechts oder links oder von wo auch immer, womit die Probleme der Zukunft zu lösen seien, ist eine Illusion. Ideologien funktionieren in der Theorie, aber sie ignorieren den Faktor Mensch. Und oft auch ganz schlicht die Realität.

Ich denke: Bei der Suche nach einer nachhaltigen Strategie geht es primär um eine genaue, sachliche Definition des Problems und um die Frage nach den für die jeweilige Lösung zuständigen Kompetenzbereiche, also auch um das Auseinanderhalten von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Für mich ist klar: It’s the economy, stupid. Sie schafft die existenzsichernde Grundlage, die Politik ist für den gesetzlichen Rahmen und für die Verteilung des Mehrwerts zuständig. Je nach Wertesystem einer Gesellschaft ist diese Verteilung gerechter oder weniger gerecht. Danach sollte man entscheiden und handeln.

Wovon wir damals geträumt hatten, nämlich, dass in einer demokratisch organisierten Gesellschaft die Politik das Primat vor der Wirtschaft übernehmen könnte, ist eine idealistische Sichtweise. Wo die Politik das Primat übernimmt entsteht eine staatlich gelenkte Wirtschaft. Allein schon der Gedanke ist absurd in einer Demokratie. Eine Illusion ist es auch zu glauben, dass eine staatlich gelenkte Wirtschaft besser in der Lage wäre, eine gerechtere Welt zu schaffen. Wäre das so, wären alle Christen gute Menschen und der Kommunismus hätte das Verteilproblem für alle Zeiten «gerecht» gelöst. Theorien helfen mit, bestehende Systeme und ihre Denkmuster zu hinterfragen und erfüllen damit eine wichtige Funktion auf der Suche nach einer nachhaltigen Lösung. Diese kann aber nur auf dem pragmatischen Boden der Realität gefunden werden.

Eine reale Gefahr für die Demokratien Europas bedeutet das zunehmende geopolitische Machtstreben der Autokraten. Putin und Erdogan sind reine Machtpolitiker, die nicht mit ethisch-moralischen Argumenten zu überzeugen sind. Hier wird sich zeigen, ob Europa in der Lage sein wird, einerseits als geeinte Wertegesellschaft zu bestehen und sich andererseits als selbstbewusster, wirtschaftlicher und politischer Machtfaktor ins Spiel zu bringen.

Ich denke: Die Welt verändert sich immer schneller, und um die Herausforderungen der Zukunft zu lösen, braucht es zweifellos mehr politische Weitsicht und neue Denkansätze, wie sie beispielsweise der französische Ökonom Thomas Piketty beschreibt. Bis jedoch die politische Basis für die Umsetzung geschaffen ist, vergehen voraussichtlich noch Jahrzehnte. Es sei denn, eine weltweite Katastrophe zwingt zu schnellerem Handeln. Corona reicht dazu nicht, wie wir jetzt schon wissen. Auch wenn die Verwerfungen dieser Pandemie noch sehr lange dauern und ihre weltweiten Nachwirkungen vermutlich sehr viel dramatischer sein werden, als es im Moment aussieht.

So sehe ich das.

 

Gleiche Bildungschancen für alle

Was unternehmen mit den Kindern? Ich kenne das Dilemma. Auch als Grossmutter. Wenn ich vergleiche mit früher, dann staune ich manchmal, wie vielfältig heute das Angebot ist. Meine Eltern haben höchst selten etwas mit uns unternommen. Ausser Spazieren in der Umgebung. Immerhin fuhren wir jedes Jahr einmal in die Ferien. Und ich bin in einem Haus mit Garten aufgewachsen, genauso wie Marcel, dessen Radius dadurch grösser war, als der von Kindern, die in engen Verhältnissen mit wenig Anregungen aufwachsen.

Trotzdem: Manchmal dünkt mich schon, heute werde alles den Kindern untergeordnet. Was macht das aus ihnen? Werden sie zu kleinen Egoisten erzogen, die alles haben können, sobald sie es sich wünschen – oder verlangen? Was macht das mit ihrem Durchhaltevermögen? Mit ihrer Toleranzschwelle? Mit ihrer Aufnahmefähigkeit? Mit ihrer Resilienz?

Dass Kinder heute besser gefördert werden und ihre Persönlichkeit eigenständiger entwickeln können, ist ohne Zweifel ein Fortschritt. Auch wenn das nach wie vor nur für diejenigen gilt, die sich das leisten können oder deren Eltern die Bildung als wichtigste Voraussetzung für die Zukunft ihrer Kinder erkennen. Nicht alle tun oder können das, wie man weiss. Sei es aus sozialen, aus kulturellen, politischen oder religiösen Gründen.

Gleiche Bildungschancen für alle ist wahrscheinlich die wichtigste politische Forderung überhaupt. Dazu passend das Zitat, das ich erst kürzlich per Zufall im TA gelesen habe: «Wenn du erst lesen gelernt hast, wirst du für immer frei sein.» Es stammt vom US-amerikanischen Schriftsteller Frederick Douglass, der im 19. Jahrhundert gegen die Sklaverei kämpfte. Gleiche Bildungschancen müsste das zentrale Anliegen jeder Gesellschaft sein, auch im Sinne einer echten demokratischen Gesellschaft mit gleichen Chancen, gleichen Rechten und gleichen Pflichten für alle. Aber davon sind wir noch weit entfernt. Und im Moment sieht es sogar danach aus, als ob immer weniger Menschen wüssten, was Demokratie bedeutet.

Ich denke: Aufklärung, Demokratie und die Erklärung der Menschenrechte sind die drei bedeutendsten zivilisatorischen Errungenschaften. Wenn wir sie relativieren und sie verhandelbar werden, können sie sehr schnell usurpiert und in ihr Gegenteil verkehrt werden. Darüber sollte man reden. Immer und immer wieder. Meine wichtigste (politische) Gesprächspartnerin war Irene, meine wichtigsten Gesprächspartner waren Res und Walter. Sie sind nicht mehr. Jetzt diskutiere ich sehr oft mit meinem Bruder Hansruedi, Hani, wie ich ihn seit meiner Kindheit nenne, oder HRI, wie er heute unterschreibt. Wir sind politisch nicht exakt auf einer Linie, aber beide überzeugte, liberal denkende Demokraten. Ob etwas mehr links oder etwas mehr rechts, spielt dabei keine Rolle.

So sehe ich das.

 

Altern

Im Spiegel blickt mir ein Gesicht entgegen, das im Begriff ist, seine Vergangenheit preiszugeben und den unbeschwerten Glauben an die Zukunft zu verlieren. Wie viel Zeit bleibt mir noch? Wofür? Wozu?

Die Leute sagen, alt werden sei schön. Ich betrachte meinen Körper, der nicht mehr zur Vorstellung gehört, die ich von mir habe, den in Stand zu halten immer mehr Aufwand benötigt. Wie wucherndes Unkraut überziehen ihn braune Altersflecken und dünne rote und dicke blaue Äderchen und verleihen ihm den Charme einer verlassenen Kiesgrube. Die Zellen sind es leid, sich immerfort regenerieren zu müssen, sie machen sich selbständig, statt zu Muskeln versammeln sie sich zu Fettklumpen, die so bitter zu ertragen sind wie die Haut schmeckt, nach der sie genannt sind. Mit 60 ist die Zeit der Selbsttäuschung vorbei. Der Körper zerfällt in wenige noch und in viele nicht mehr vorzeigbare Teile, die Falten sind nicht bloss das erste Erschrecken einer Vierzigjährigen und auch nicht mehr die Koketterie einer Fünfzigjährigen, sie sind da als Zeichen des Zerfalls, der nicht mehr aufzuhalten ist. Was sollte daran schön sein?

Sie reden von der Würde des Alters. Ich denke an die täglichen Demütigungen, die vielen, kleinen Hiebe, die verletzen, denen wir Frauen besonders ausgesetzt sind, weil wir zulassen, dass unser Alter zum Makel wird und wir uns selbst zu hassen beginnen, weil wir dem Anspruch nicht mehr genügen, den die Gesellschaft und wir selber an uns stellen. Wir machen uns vor, wir fühlten uns jung und könnten nochmals ganz von vorne beginnen, dabei wissen wir, dass es nicht so ist. Wir stören, weil wir immer älter werden, unser Anblick wird zur Zumutung, wir kosten nur noch, wenn wir krank werden, wir müssten uns rechtzeitig umbringen, damit sich unser Gewissen wieder beruhigt und wir nicht mehr auf Kosten der Jungen die Vermögen aufbrauchen, die für die kommenden Generationen nicht mehr da sein werden. Was ist daran würdevoll?

Sie preisen die Weisheit des Alters. Welche Weisheit? Zu wissen, dass wir besser den Mund halten, weil niemand mehr hören will, was wir zu sagen haben, weil alles anders ist, als wir es noch erlebt haben? Wir wissen um unseren Tod und suchen verzweifelt nach dem Sinn unseres Noch-Daseins, der uns abhanden gekommen ist, wir flüchten in spirituelle Selbsterfahrung, bilden uns ein, wir könnten die Antwort in uns finden und tun so, als seien wir abgeklärt und setzen die Maske der inneren Zufriedenheit auf und sagen, es gehe uns gut, was aber nicht stimmt. Lieber ziehen wir Gott aus der Schublade mit den abgelegten Akten hervor, als dass am Ende alles aus ist, und nennen ihn geistige Kraft oder Göttin oder universelle Macht. Was hat das mit Weisheit zu tun?

In unserer Gesellschaft haben das Alter seine Würde und die Alten ihren Stolz verloren - und die jungen Menschen den Respekt. Die Jungen wissen noch nicht, dass der Tod hinter der nächsten Hausecke lauert und jederzeit hervortreten kann, bevor wir unser Leben in Ordnung gebracht haben, bevor wir alle die Orte gesehen haben, auf die wir noch neugierig waren, bevor wir alle Dinge getan haben, die wir noch tun wollten.

Warum nehme ich den jungen Menschen eine Chance, wenn ich noch nicht alt sein will? Ich mache nicht ihre Mode mit, höre nicht ihre Musik und gehe nicht in ihre Lokale, ich dringe nicht in ihre Welt ein und bilde mir auch nicht ein, ich sei dort willkommen.

 

 

Bloss Durchschnitt

Reicht es als Daseinsgrund, etwas nur für sich zu tun?

Das habe ich mich oft gefragt in meinem Leben. Natürlich hatte ich meine Familie, für die ich mich engagierte, meinen Beruf, meine Verpflichtungen, meine Interessen. Natürlich habe ich mich immer wieder mal für jemanden oder für etwas eingesetzt. Finanziell, schriftlich, mündlich. Aber nie physisch. Ich werde nie etwas Ausserordentliches geleistet haben, wie zum Beispiel eigenhändig eine Schule in Nepal zu bauen, auf 3000 Metern Höhe, wie Miriam, oder mich unermüdlich für Flüchtlinge einzusetzen, wie Maja es bis zur Erschöpfung getan hat, bis sie zusammengebrochen und gestorben ist. Es gibt so viele Möglichkeiten, etwas für das Gemeinwohl zu tun, freiwillig, unentgeltlich, selbstlos, beispielsweise schwerkranken Kindern im Spital Gesellschaft zu leisten, wie Nanette, oder junge Migrantinnen und Migranten zu unterrichten, wie Franziska. Ich habe davor grosse Achtung, aber ich weiss: Ich kann es nicht. Jedenfalls nicht als ständige Verpflichtung.

Ich bin kein besonders altruistischer Mensch. Ich spende, was mir möglich ist, bin Mitglied in gemeinnützigen und Umweltschutz-Organisationen, habe ab und zu mal ein paar Stunden physischen Einsatz an einem Rotary-Anlass geleistet, mit dem wir Geld für gemeinnützige Zwecke sammelten. Aber das ist schon alles. Wenn ich mich für ein gesellschaftliches oder politisches Anliegen einsetze, dann wähle ich den Weg des geringsten Widerstandes. Ich zahle. Oder schreibe. Und werfe den Stimmzettel ein.

Ich wäre auch niemals so mutig, wie diese bewundernswürdigen Frauen, die in männerdominierten, machistischen oder rückständig religiösen Gesellschaften für ihre Rechte kämpfen und diesen Kampf oft mit dem Leben bezahlen. Oder wie oppositionelle Politikerinnen, Künstlerinnen oder politische Demonstrantinnen in einer Diktatur. Oder wie die Journalistinnen und Journalisten, die der Korruption auf der Spur sind und von ihren Gegnern verfolgt, gefoltert und umgebracht werden, meist sogar im geheimen Auftrag des Staates. Im meiner Jugend ging ich an die Demos der 68er, 1991 war ich am Frauenstreik, 2019 an der Klimademo und am Frauenstreik, aber da ist man unter vielen Gleichgesinnten, das ist nicht mutig. Schon gar nicht in einem Staat, der das Recht zu demonstrieren schützt.

Dante würde mich in der Vorhölle der lauen Seelen verorten. Auch damit musste ich mich irgendwann im Leben abfinden.

 

 

Was ist Kunst?

Was ist Kunst? Diese Frage beschäftigte mich ein Leben lang, mit zunehmendem Alter noch mehr. Kunstgeschichte war mein Wahlfach in der Diplommittelschule. Aber die Stilepochen und ihre wichtigsten Vertreter zu kennen heisst nicht, Kunst zu verstehen. Anschlussfrage: Muss man sie verstehen? Ich weiss es nicht. Vielleicht ist es tatsächlich nicht nötig, wie Jürg sagt, auch wenn mich diese Antwort nicht wirklich befriedigt.

Meine Definition: Kunst – im weitesten Sinne – ist der kreativ umgesetzte Ausdruck der Zeit, in der sie entsteht, sie war und ist Teil jeder Kultur, sie erweitert unseren Horizont, als Spiegel der Gesellschaft ermöglicht sie Identifikation und gleichzeitig Relativierung des Selbst, sie öffnet den Blick für andere Denk- und Sichtweisen und macht uns dadurch zu verständigeren Menschen, sie schärft die Sinne, sie macht uns empfänglich für das Wesentliche im menschlichen Dasein, für das Essentielle, das uns Menschen über alle sozialen, ethnischen und kulturell bedingten Unterschiede hinweg verbindet.

Doch das ist nur der immaterielle Wert. Hinzu kommt der wirtschaftliche Faktor: In der Schweiz gibt es zirka 65 000 Kulturunternehmen mit 225 000 Beschäftigten. Die Wertschöpfung der Kultur ist mit rund fünf Prozent gleich hoch wie jene der Tourismusbranche. Das geht oft vergessen.

Ich denke: Gerade, weil sie keine abschliessenden Antworten liefert, ist Kunst unverzichtbar in einer individualisierten, auf Selbstprofilierung, auf Geld und Gewinn, nur auf Nutzen, auf Leistung und Erfolg und auf technologischen Fortschritt getrimmten, nach ökonomischen Kriterien gleichgeschalteten, aber geistig verarmenden Konsumgesellschaft. Denn sie zeigt uns, was es alles gibt, sie erzählt uns Geschichten, erinnert uns an die unzähligen Möglichkeiten, die Dinge zu sehen und regt so zum Denken an. Ausserdem macht sie den Menschen Freude, die sie schätzen.

So sehe ich das.