Sonntag, 13. Dezember 2009

Wir, die SVP, sind das "Volk"!

Die Diskussion um das Minarettverbot hört nicht auf - Gott oder Allah oder Jehovah oder Buddha oder Shiva oder wem auch immer sei Dank.
In den Medien machen sich viele gescheite Leute gescheite Gedanken: Der Rechtsprofessor Peter Nobel sorgt sich (zu Recht) um den Rechtsstaat; "NZZ am Sonntag"-Chefredaktor Felix E. Müller beschreibt, wie die Schweiz immer mehr von einer Sachdemokratie zu einer Sündenbockdemokratie wird; im Satz "Der Souverän bestimmt die Gesetze - aber nicht die Wahrheit" bringt Kommentator Daniel Binswanger eine weitere Erkenntnis auf den Punkt; der Historiker Urs Altermatt verleiht der Schweiz (wohl nicht zu Unrecht) die negative Vorreiterrolle eines Kulturkampfes, der auf Europa zukommt; der deutsch-iranische Schriftsteller und Islamwissenschafter Navid Kermani sieht die Grundrechte zur Disposition gestellt und den gesellschaftlichen Wertekonsens in Gefahr, während Manfred Papst nach dem "rabenschwarzen Bild" der Schweiz kurz nach der Abstimmung nun im Ausland eine "erstaunlich differenzierte Debatte" feststellt.
Hierzulande kreuzen derweil Gegner und Befürworter die Klingen: Im Fernsehen verkommt das Thema einmal mehr zum Hahnen-Schaukampf; zu meinem Ärger auf allen Kanälen dabei der schmallippig grinsende Roger Köppel, der sich in der Provokation gefällt, auch wenn er dabei die Demokratie auf den Kopf stellen, unwidersprochen absolute Ungeheuerlichkeiten von sich geben und allen das Wort im Munde verdrehen darf und ein Beispiel dafür liefert, wie Intellektuelle seines Zuschnitts es geniessen, ihre rhetorisch weniger beschlagenen Gesprächspartner vorzuführen. Ein gefährliches Spiel. Weil es nur dem eigenen Machtempfinden und nicht der Sache dient. Und weil die meisten Menschen nicht zynisch genug sind, es zu durchschauen.
Die Arroganz der Sieger spricht auch aus vielen Voten der SVP-Oberen, die "im Namen des Volkes" jeden und jede diffamieren, die sich jetzt (leider erst nach der Abstimmung) aufgeschreckt Gedanken darüber machen, wie Demokratie und Rechtstaatlichkeit wieder ins Gleichgewicht gebracht werden könnten. Wann wird aus der Diffamierung ernst gemeinter Meinungsterror?
Clever und schnell ist sie ja, die SVP, das muss man ihr lassen. Damit die Suppe am Köcheln bleibt, will sie als nächstes einen Vorstoss machen, der verlangt, dass Initiativen immer vors Volk gebracht werden müssen - auch wenn sie einer völkerrechtlichen Prüfung nicht standhalten und letztlich nicht voll umsetzbar sind. Damit überholt die SVP schon wieder alle andern Parteien. Diese werweissen immer noch ganz zerknirscht, ob es nicht doch vielleicht möglicherweise allenfalls gar besser wäre, wenn künftig ein unabhängiges Rechtsgremium jede Initiative auf ihre Umsetzbarkeit prüfen müsste, bevor darüber abgestimmt werden kann.
Für die anderen Parteien wäre jetzt der Moment da, laut und dezidiert eine Grundsatzdebatte über Demokratie und Rechtsstaat anzustossen und mit einer klaren Gegenposition zur SVP ihr eigenes Profil zu schärfen. Doch wo sind sie? Wo bleiben die Vertreter des "Volkes", zu dem ich mich zählen könnte? In Deckung! Es ist ihnen wohl zu heiss, ein Thema aufzugreifen, das beim SVP-"Volk" womöglich nicht ankommen könnte.
Seit der letzten Abstimmung kann ich mir vorstellen, dass auch die neuste SVP-Idee Erfolg hat. Und meine Befürchtung steigt, dass die SVP ihr angestrebtes Ziel tatsächlich erreicht, dem sie schamlos alles unterordnet: 40 bis 50 Prozent Wähleranteil. Wir die SVP sind das "Volk"! Nicht auszudenken, was danach mit der Schweiz passiert.

Donnerstag, 10. Dezember 2009

Engagement für einen Komponisten

Die Internationalen Musikfesttage Bohuslav Martinů locken seit 14 Jahren jeden Herbst ein stetig wachsendes musikinteressiertes Publikum nach Basel. Ich bin mit dem Festival verbunden und habe einen Auftrags-Artikel darüber geschrieben, den ich hier ebenfalls "veröffentliche", weil es mir ein Anliegen ist, dieses Kleinod unter den Musikfestivals bei möglichst vielen Liebhabern klassischer Musik bekannt und beliebt zu machen. Wer neugierig geworden ist, kann Martinůs Musik kennenlernen mit der neuen CD, die zum diesjährigen Anlass erschienen ist. Darauf ist Robert Kolinsky, Initiant und Leiter der IMBM, als Pianist zu hören: Unter der Leitung von Vladimir Ashkenazy spielt er unter anderem zwei Klavierkonzerte. Das eine der beiden, das Klavierkonzert Nr. 4 mit dem Titel "Incantation" wird von einigen Kritikern als das eindrücklichste des 20. Jahrhunderts bezeichnet. (Mehr dazu unter http://www.kolinsky.ch/news_de.html)
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Resultat eines hartnäckigen und unermüdlichen Engagements
Martinů auf dem Platz, der ihm zusteht
Die internationalen Musikfesttage B. Martinů standen dieses Jahr ganz im Zeichen des 50. Todesjahres des Komponisten und warteten mit mehreren musikalischen Höhepunkten auf.
Ein kurzer Festakt vor dem Eröffnungskonzert bildete den Auftakt, der als Hommage an Bohuslav Martinů inszeniert worden war. Den musikalischen Rahmen boten der Kinderchor SurseeCantorei mit Liedern von Martinů; der Essayist Iso Camartin moderierte mit bewegenden Worten und der tschechisch-österreichische Schriftsteller Pavel Kohout schloss den Bogen zwischen der Schweiz und Tschechien mit seiner launig erzählten, aber makabren und mit politischen Scharmützeln begleiteten Geschichte von der Überführung des Leichnams Martinůs von Frenkendorf in seine ostböhmische Heimatstadt Polička.
Festen Platz erkämpft
Anlass für den Festakt im Stadtcasino Basel bildete neben der Eröffnung der diesjährigen Festtage die Enthüllung einer Heliogravur, welche die Basler Künstlerin Hildegard Spielhofer im Auftrag der Schweizerischen Martinů Gesellschaft entworfen hatte. Die Heliogravur hängt nun im Foyer des Stadtcasinos Basel neben der Gedenktafel für Bèla Bartók und erinnert an die letzten Jahre Martinůs, die er auf Vermittlung seines Freundes Paul Sacher im kleinen Ort Frenkendorf bei Liestal verbracht hatte, und wo er am 28. August 1959 verstarb. Martinů ist damit Teil des Basler Kulturschaffens geworden, das durch ihn damals wie heute seine internationale Ausstrahlung ausweiten kann. Die Bedeutung dieser Tatsache strich denn auch der Regierungspräsident des Kantons Basel-Stadt, Guy Morin, in seiner Laudatio hervor.
Die starke mediale Resonanz und die Anwesenheit zahlreicher Prominenz aus dem In- und Ausland am Festakt bedeuteten für den Initianten und künstlerischen Leiter des Festivals, den Pianisten Robert Kolinsky, eine besondere Genugtuung. Seit ihrer Gründung vor 14 Jahren mussten sich die Musikfesttage ihren festen Platz im Kulturleben Basels immer wieder neu erkämpfen, auch nachdem sie sich ihren hervorragenden Ruf in der internationalen Musikszene längst erworben hatten. Während die Aufführungen in den Medien jeweils beste Kritik erhielten und die Besucher von weither anreisten, blieb das Festival in der tonangebenden Basler Gesellschaft lange Zeit nur einem kleinen Kreis von Musikliebhabern bekannt.
In Musikerkreisen geschätzt
Wie hoch die Bedeutung des Festivals gerade auch in Musikerkreisen eingeschätzt wird, zeigt sich unter anderem an den zahlreichen international bekannten Interpreten, die sich jedes Jahr nach Basel engagieren lassen. Ihr Interesse für den vielseitigen Komponisten nimmt stetig zu. Martinů ist kein Geheimtipp mehr; er gehört heute nach und nach zum Standardrepertoire vieler Orchester und Solointerpreten.
So nimmt beispielsweise das Academy of St. Martin in the Fields Chamber Ensemble Martinů schon seit längerem regelmässig in sein Programm auf, während der Geiger Frank Peter Zimmermann zum ersten Mal ein Violinkonzert von Martinů interpretierte, nachdem er durch Kolinsky darauf aufmerksam gemacht worden war. Er ist davon so begeistert, dass er sich weiter mit Martinů beschäftigen will, wie er kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift "Musik und Theater" sagte.
Frank Peter Zimmermann und das englische Kammermusik-Ensemble waren zweifellos die Stargäste am diesjährigen Festival. Neben ihnen glänzten aber wiederum eine ganze Reihe international renommierter Namen: So beeindruckte am Eröffnungskonzert das Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester unter dem Dirigenten Neeme Järvi das Publikum, während der tschechische Bassist Miroslav Vitous am Schlusskonzert mit seinen Interpretationen daran erinnerte, wie hoch Martinůs Affinität zum Jazz war.
"Unbedingte Präsenz der Musik"
Mit einer einfühlsamen und enorm spannenden Interpretation des 2. Violinkonzerts vermittelte Frank Peter Zimmermann den rund 1300 Konzertbesuchern im grossen Musiksaal des Stadtcasinos Basel einen berührenden Einblick in den musikalischen Reichtum Martinůs. Aus den Gesprächen nach dem Konzert hörte man bei manchen die Verwunderung heraus, wie es kommen konnte, dass ihnen diese grossartige Musik bisher entgangen war.
Der Grund für die grosse Akzeptanz von Martinůs Musik erklärte Giselher Schubert, Leiter des Hindemith Institutes in Frankfurt, in seiner Einleitung zum kammermusikalischen Abend: Die Musik besteche durch ihre "unbedingte Präsenz", sie überzeuge auf Anhieb, ohne dass wir erfahren müssten, wie sie im Detail gearbeitet sei. Die Werke hätten im Repertoire der Musiker überlebt, weil sie zu gebrauchen seien und sich in ihrer klanglichen Präsenz stets aufs Neue bewährten. Es sei deshalb wohl verdient und historisch gerecht, dass sie in Basel in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt würden.
Europäische Uraufführung
Martinůs Freund und Förderer, der Schweizer Dirigent Paul Sacher sagte einmal über ihn: "Ich habe in meinem ganzen Leben keinen einfacheren, aufrichtigeren und ergreifenderen Menschen gekannt." Diese Aufrichtigkeit war es wohl auch, die Martinů niemals überheblich werden liess und ihm erlaubte, vorurteilslos offen zu bleiben gegenüber den verschiedenen Musikrichtungen seiner Zeit. So ist ein Einblick in Martinůs Musik erst komplett, wenn er alle Facetten dieses vielfältigen Werks aufzeigt, das von einfachen Volks- und Kinderliedern über eine von Unterhaltungsmusik und Jazz inspirierte Filmmusik bis zu grossen sinfonischen Kompositionen und schliesslich zur verdichteten Kammermusik reicht.
Die IMBM haben es sich zur Aufgabe gemacht, auch die weniger bekannten Werke Martinůs in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen. Diesmal war es die damals populäre, aber später in Vergessenheit geratene Fernsehoper "Die Heirat" nach der gleichnamigen Komödie Gogols, die Martinů für die NBC geschrieben hat. Von der Filmrolle hiess es lange Zeit, sie sei verschollen, doch Kolinsky liess nicht locker, bis sie schliesslich in der Library of Congress in Washington aufgefunden wurde. Dass sie den IMBM für die europäische Uraufführung zur Verfügung gtestellt wurde, zeugt vom Ruf und vom Vertrauen, das die Veranstalter international geniessen.
In 40 Länder ausgestrahlt
Im Programm der IMBM spiegelt sich der Wille, den ganzen Reichtum eines Werks am Grenzweg zur Moderne aufzuzeigen, das trotz oder gerade wegen seiner zahlreichen stilistischen Variationen zu einer eigenen unverwechselbaren Sprache gefunden hat. Diesen Anspruch jedes Jahr zu erfüllen, ist das erklärte Ziel Robert Kolinskys. Der beinahe spektakuläre Erfolg beweist, dass er sein Ziel auch in diesem Jahr erreicht hat.
Schon seit Jahren sind Aufzeichnungen von Basler Martinů-Konzerten im Kulturprogramm des Schweizer Radiosenders DRS2 fest eingeplant. Diesmal schlossen sich zwei Fernsehsender an, unter ihnen der internationale Musiksender Mezzo, dessen Programm in 40 Länder ausgestrahlt wird. Kolinskys Wunsch war und ist es stets gewesen, das umfangreiche und vielschichtige Werk Martinůs einem grösseren Publikum bekannt zu machen und ihm die Anerkennung zu verschaffen, die ihm gebührt. So ist die Beachtung, die Martinůs Musik heute in Basel und europaweit erreicht hat, nicht zuletzt auch das Verdienst seines unermüdlichen Schaffens und das seines Teams, das ihn dabei mit grossem Engagement unterstützt.
Weitere Informationen unter www.martinu.ch

Freitag, 4. Dezember 2009

Niemand will sparen, weil alle profitieren

Von meiner Krankenkasse habe ich die Abrechnung erhalten über einen Betrag, den das Universitätsspital Zürich irrtümlich zu meinen Lasten in Rechnung gestellt hatte. Es geht um eine freiwillige Nachuntersuchung im Juli, zu der mein Arzt mich - und weitere seiner Patientinnen - aufgeboten hatte. Er operiert mit einem neuen angiologischen Verfahren und braucht die Daten für eine Studie über dieses Verfahren; für die Studie arbeitet er mit einer Kollegin im Unispital zusammen. Das heisst, der Betrag müsste vom Unispital über den wissenschaftlichen Fonds abgerechnet werden.
Schon im Juli, als ich - freundlicherweise - zur Untersuchung erschienen war, hatte ich den Eindruck, dass im Unispital die linke Hand nicht weiss, was die rechte macht. Niemand war informiert; den Ultraschall hat schliesslich die diensthabende Ärztin vorgenommen - ziemlich genervt und nur, weil ich das schriftliche Aufgebot in den Händen hielt. Ganz offensichtlich hätte sie mich am liebsten dorthin gewünscht, wo der Pfeffer wächst.
Kurz nach der Untersuchung erhielt ich die Kopie der Rechnung und rief sofort an; die Person am Telefon bestätigte mir, dass es sich tatsächlich um ein Versehen handle und die Rechnung an meine KK storniert würde. Auf meine Frage, ob für mich die Sache damit erledigt sei, reagierte sie pickiert. Der Tonfall in ihrer Stimme sagte mir, dass nichts passieren würde.
Mein Bauch hatte Recht.
Wer schon mal zu einer ambulanten Untersuchung im Unispital aufgeboten wurde, kennt das kafkaeske Gefühl, das einem in diesem bürokratische Moloch beschleicht. Die Vermutung, dass im Gesundheitswesen die eine Hand nicht weiss, was die andere macht, oder besser, eine Hand die andere wäscht, habe ich schon lange. Das System ist mittlerweile so kompliziert, dass es genügend Schlupflöcher bietet für Profiteure auf der einen und für Inkompetenz und Gleichgültigkeit auf der andern Seite.
Alle wissen es: Unser Gesundheitswesen ist zu teuer. Auch die PolitikerInnen schwatzen andauernd davon, dass wir zuviel bezahlen würden. Ernsthaft dagegen tun sie allerdings nichts. Denn kaum jemand von ihnen blickt in dem System durch, das sich - wie das Finanzsystem - selber schützt. Genauso wenig, wie sie dem Druck der starken Lobby gewachsen sind, die sich in diesem Fall je nach Thema zusammensetzt aus Pharmaindustrie, Ärzten, und wer immer sonst noch ein Interesse hat, das eigene System möglichst intransparent zu halten.
Ich habe vor langer Zeit mal im Unispital gearbeitet: Damals hatte man gerade neue Titel für die Ärzte geschaffen, zum Assistenten gab es nun auch noch den Oberassistenten, zum Oberarzt den Leitenden Arzt usw. Und jeder, der seine Karriere am Unispital so ein bisschen verlängern konnte, musste dies natürlich mit wissenschaftlichen Publikationen rechtfertigen. Also wurden Studien angenordnet, die mehr der Karriere als der Sache dienten, die aber selbstverständlich alle Geld kosteten. Und selbstverständlich brauchten die Oberassistenten auch noch Sekretärinnen, die Leitenden Ärzte ein eigenes Team mit eigenen Labors mit den teuersten Geräten und, und, und...
Ich fürchte, das ist heute nicht besser.
PS: Das Verfahren, worum es in der Studie geht, kostet rund ein Drittel der konservativen Methode. Bisher sind keine Nebenwirkungen bekannt, ganz im Gegensatz zur herkömmlichen Methode. Die Krankenkassen sind jedoch nicht bereit, die Kosten für das neue Verfahren zu übernehmen, weshalb die meisten Patientinnen sich für die konservative Methode entscheiden. Mit dem Resultat, dass die KK statt Kosten zu sparen dreimal so viel für die teurere Methode bezahlen.
Damit man mich nicht falsch versteht: Ich finde es richtig, dass meine KK mein Krafttraining nicht bezahlt, obwohl es ärztlich empfohlen ist, falls ich keinen weiteren Bandscheibenvorfall will. Wer sich die Prävention - zum Beispiel das Fitnesscenter - von der KK bezahlen lässt, trägt ebenfalls zur Verteuerung bei. Und dass die meisten Menschen viel zu oft zum Arzt rennen und ihrerseits das Gesundheitswesen verteuern, ist mir auch klar.
Es könnte also auf allen Ebenen eine Menge eingespart werden. Nur: Wer ist daran interessiert???

Montag, 30. November 2009

Hat "das Volk" immer Recht?

Nun soll also das Bauverbot für Minarette in die Bundesverfassung. Wie absurd! Niemals hätte ich ein solches Abstimmungsergebnis erwartet, im Gegenteil, ich war ganz sicher, dass nur die fundamentalistischen Frömmler, die eingeschworenen Parteigänger der SVP, der braune Block ganz rechts und vielleicht noch ein paar Überängstliche die Initiative unterstützen würden. Ich war ganz - na ja, sagen wir ziemlich - sicher, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer intelligent und vernünftig genug sein würde zu erkennen, dass ein Minarett-Verbot keine Probleme löst, sondern nur neue schafft.
Warum diese Initiative überhaupt als rechtsgültig erklärt wurde, war mir nie ganz klar. Natürlich verbietet sie nicht, Moscheen zu bauen und sie hindert die Moslems auch nicht daran, ihren Glauben auszuüben; so gesehen verstösst sie tatsächlich nicht gegen die Glaubensfreiheit, wie ihre Befürworter betonen. Hinzu kommt, dass von islamischer Seite stets bestätigt wurde, dass ein Minarett für die Ausübung des Glaubens nicht zwingend sei.
Trotzdem wäre meiner Meinung nach das Argument zu rechtfertigen gewesen, die Initiative sei diskriminierend und verletze die Menschenrechtskonvention und sei deshalb letztlich nicht umsetzbar. Ganz abgesehen davon, dass ein Bauverbot schlicht und ergreifend nicht in eine Bundesverfassung gehört. Zwar hätte der Bundesrat mit der Ungültigkeitserklärung eine heftige - und wie sich zeigt auch dringend nötige - politische Diskussion ausgelöst und sich dem Druck von rechts ausgesetzt, aber er hätte den Schaden wenigstens in Grenzen gehalten (auch wörtlich). Denn abgesehen vom (weiteren) weltweiten Imageschaden, den die Schweiz jetzt erleidet, ist die Intitiative zutiefst undemokratisch und untergräbt das Fundament unseres Staatswesens, nämlich den Schutz von Minderheiten und Andersdenkenden. Damit richtet sie sich genau gegen diejenigen Grundwerte, auf die sich gerade die Befürworter der Initiative gerne berufen: gegen Freiheit, Toleranz und gleiches Recht für alle. Auch wenn die Initianten sich jetzt beeilen, das Gegenteil zu beteuern: Letztlich war ihr Vorstoss gegen die Moslems gerichtet. Mit andern Worten, gegen eine Minderheit im Land. Wer kommt als nächstes dran: wieder die Juden, oder die Schwulen?
Ich kann die Aengste oder das Unbehagen im Volk durchaus nachvollziehen. Ich mag den fundamentalistischen Islam auch nicht. Ich ärgere mich auch über rückständige, frauenfeindliche Gesetze (die es übrigens in der katholischen Kirche und anderen männerbündischen Organisationen der westlichen Welt ebenfalls nach wie vor gibt). Ich bin auch empört über die Tatsache, dass in gewissen islamistischen Ländern Frauen ungestraft geschlagen, gedemütigt und als rechtlose Wesen zweiter Klasse behandelt werden können. Und mir fehlt die klare Stellungnahme der gemässigten oder liberalen Moslems ebenfalls, die sich von diesen Erscheinungsformen des Islam distanzieren. Ich erwarte von ihnen auch ein deutlicheres Bekenntnis zu den Gesetzen unseres Landes, die eine Scharia - auch eine Teilscharia - ausschliessen und den Frauen die Gleichberechtigung garantieren.
Viele der parteipolitisch ungebundenen Wählerinnen und Wählern, die ein Ja in die Urne gelegt haben, begründen dieses mit der Angst vor einer schleichenden Islamisierung. Sie reagieren damit auf die zunehmende Einwanderung aus islamischen Ländern. Ich bestreite nicht, dass es unter den Zugewanderten auch Hassprediger geben könnte, auch ich habe schon mit unbelehrbaren Fundamentalisten gestritten (übrigens egal welchen Ursprungs) oder bin dümmlichen Machos begegnet, die nicht begreifen, dass unsere Gesetze auch für sie gelten. Über sie ärgere ich mich genauso. Aber sie sind die Ausnahme und sicher keine Gefahr. Schon gar nicht für unsere Identität. Die einzige reale Gefahr stellt der politisch motivierte islamistische Terror dar, der auch in mir gewisse Aengste auslöst, weil er weltweit vernetzt und unfassbar ist und somit jederzeit und überall zuschlagen könnte. Auch bei uns. Jetzt erst recht.
Es gibt gerade mal vier Minarette in der Schweiz. Da jeder Bau eine behördliche Bewilligung braucht, wären die Türme auch in Zukunft nicht wie Raketen aus dem Boden geschossen, wie das Plakat der Initianten suggerierte. Fragt sich also, warum das Thema überhaupt diese Bedeutung erlangen konnte. Meine böse Vermutung: Es waren vor allem taktische Gründe. Die SVP drohte an Kraft zu verlieren. Indem sie die politische Diskussion in gewohnt populistischer Manier anheizte, gewann sie ihr wichtigstes Thema, die Ausländerpolitik, zurück und konnte ihr verblassendes Profil neu schärfen.
Den Initianten war sicherlich bewusst, dass ein Minarettverbot kein einziges Problem löst; vom deutlichen Sieg sind sie wahrscheinlich selber überrascht. Wobei ich mich frage, ob ihnen darob der Verstand gleich ganz abhanden gekommen ist, wenn sie als nächstes fordern, das Gesetz sei buchstabengetreu umzusetzen, selbst wenn sich zeigen sollte, dass es übergeordnetes Recht, etwa das Völkerrecht, verletzt. Sie verlangen gar, dass internationale Abkommen, etwa die Menschenrechtskonvention, gekündigt werden müssten, falls es nicht anders gehe.
Da fragt man sich: Auf welchem Planeten leben sie denn? Wollen sie zurück in die totale Isolation, sozusagen als die sieben Zwerge hinter den sieben Bergen? Wohl kaum! Glauben sie tatsächlich, sie könnten das Rad der Welt soweit zurückdrehen, bis die Welt - oder zumindest die Schweiz - ihrer idealisierten Vorstellung entspricht? Wohl kaum! Glauben sie tatsächlich, sie könnten "den Fünfer und das Weggli" für die Schweiz bekommen ohne Zugeständnisse zu machen? Wohl kaum! Die Frage muss deshalb anders gestellt werden: Wie hoch darf eine SPV aus parteitaktischen Gründen pokern ohne die Schweiz ernsthaft zu gefährden?
Die Justizministerin Widmer-Schlumpf wurde im Zusammenhang mit dem Abstimmungsresultat gefragt, ob das Volk immer Recht habe. Sie wich der Frage geschickt aus und sagte, was PolitikerInnen in solchen Situationen immer sagen, nämlich, dass der Volksentscheid zu respektieren sei. Der Rechtspolitiker Hans Fehr antwortete auf die gleiche Frage, das Volk habe nicht immer Recht, aber es habe den letzten Entscheid. Und das sei das Entscheidende. Auch das ist keine Antwort, sondern bloss eine rhetorische Floskel.
Nein, "das Volk" hat nicht immer Recht. Wenn ein Staat nicht mehr in der Lage ist, Minderheiten gegen Diskriminierung und Ausgrenzung zu schützen, läuft ganz sicher etwas falsch. Meistens verteidige ich das direktdemokratische System mit Überzeugung, auch wenn ich bei Abstimmungen nicht immer auf der Seite der Mehrheit stehe. Damit kann ich leben. Für dieses jüngste Resultat jedoch schäme ich mich. Nicht wegen der Ängste, die man erst nehmen soll, sondern wegen der Gedankenlosigkeit auf allen Ebenen, die hier zum Ausdruck gekommen ist.

Samstag, 21. November 2009

Lechts oder Rinks

In einer Illustrierten stiess ich auf eine Buchbesprechung zum Thema, warum wir Fehler machen. Ich notierte den Titel und wollte das Buch anschliessend gleich kaufen. Doch die Buchhändlerin, die den Computer danach durchforstete, fand nichts dergleichen. Auf mein Insistieren gab sie nochmals alle möglichen Schreibvarianten ein, wobei sie sich einmal vertippte. Und siehe da, genau dabei fand sie das Buch! Der Titel hiess nämlich nicht "Rechts oder Links", wie ich ihr angegeben hatte, sondern "Lechts oder Rinks".
Ich weiss im Nachhinein nicht, ob der Titel korrekt, das heisst orthografisch falsch, in der Illustrierten stand. Dann hätte ich ihn unbewusst richtig aufgeschrieben und damit einen Fehler gemacht. Vielleicht hat ihn aber auch der Korrektor der Illustrierten bewusst "korrigiert" - womöglich mit einem Kopfschütteln über den legasthenischen Journalisten, der einen so offensichtlichen Verschreiber nicht merkt, womöglich aber auch gefrustet über den gleichgültigen Kollegen, der sich einen Deut darum kümmert, was er mit seiner liederlischen Schreibe dem Korrektorat für unnötige Arbeit aufbürdet, vielleicht auch mit einem süffisanten Lächeln über die Journalistin, die rechts und links verwechselt, wie man das von Frauen im Strassenverkehr ja schon kennt...
So bekam die an sich unbedeutende Episode nicht nur eine amüsante, sondern auch gleich eine exemplarische Bedeutung als Beispiel zum Tema. Wahrlich ein herrliches Schmankerl..
Und weil es so schön passt:
lichtung
manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum
(Ernst Jandl)
PS: Das Buch habe ich jetzt - mit Vergnügen - gelesen und kann es nur empfehlen. Glaubt mir, danach ist nichts mehr wie zuvor. Die wichtigste Erkenntnis: Traut euch nicht, das Hirn macht euch nur vor, wie ihr es gerne hättet...
(Joseph T. Hallinan, Lechts oder Rinks, Warum wir Fehler machen, Ariston 2009, ISBN 987-3-424-200016-4)

Mittwoch, 11. November 2009

Schreiben ohne Not?

Gute Literatur entstehe nur aus der Not, sagte ein Experte in einem Gespräch im Radio. Gemeint war die Not der Menschen, die unter einem Unterdrückungssystem leiden. Es ging um Herta Müller. Zwar hat einer der Gesprächspartner diese Aussage relativiert und gesagt, Literatur könne auch aus persönlicher Not entstehen, aber indirekt bestätigte er sie: ohne Not entsteht keine Literatur.
Täglich lese oder höre ich von Menschen, die in Not sind, die von tragischen Schicksalen heimgesucht werden, deren Alltag durch Armut und Unterdrückung bestimmt wird, die von schweren, unheilbaren oder von schmerzhaften chronischen Krankheiten betroffen sind, die von staatlicher Willkür zermürbt werden, die keine Freiheit und keine Rechte kennen, die Krieg und Gewalt ausgesetzt sind. Ab und zu begegne ich einem dieser Menschen, zum Beispiel der gelähmten, jungen Frau heute im Tram. Sie sass im Rollstuhl und lächelte mich an, als ich ihr den Knopf drückte, damit sie aus dem Tram fahren konnte. Mir wurde dabei bewusst, welch grosse Befreiung die niederen Ausstiege beim Cobratram und die kleine Erhöhung der Rampen an den neuen Haltestellen für sie sein muss.
Jedes Mal, wenn ich einem solchen Menschen begegne, frage ich mich, wie ich dessen Schicksal ertragen könnte. Ob ich es annehmen und auch so lächeln könnte, wie diese junge Frau, oder ob ich haderte und zu einer verbitterten Frau würde. Ich weiss es nicht. Aber jedes Mal bin ich dankbar für mein gutes Leben. Ich weiss, es ist ein Geschenk. Nur weiss ich nicht, wem ich dafür danken soll. Dass es einen lieben Gott gibt, der Gebete erhört, daran glaube ich schon lange nicht mehr. Auch wenn mir bewusst ist, dass der blosse Glaube manchmal Wunder bewirkt, und dass Religion lebenswichtig ist für viele Menschen, die daraus Hoffnung schöpfen (deshalb fällt es den religiösen Institutionen und ihren Führern ja auch so leicht, ihre Macht zu missbrauchen). Diese Menschen sind sicher, dass es einen Gott gibt. Ich wünschte, ich könnte das auch sagen.
Einmal mehr frage ich mich, warum ich schreibe, obwohl ich wirkliche Not niemals kennen gelernt habe. Sicher, es hat Brüche gegeben in meinem Leben, Enttäuschungen und Rückschläge, die schwer zu verkraften, Verluste, die schmerzhaft waren. Auch seelische Nöte, immer wieder. Aber diese Dinge kommen in jedem Leben vor. Mein Leben ist nichts Besonderes, ich bin nichts Besonderes und ich habe nichts Aussergewöhnliches geleistet oder geschaffen. Habe ich trotzdem das Recht zu schreiben, bin ich überhaupt in der Lage dazu? Ich weiss es nicht.
Vielleicht schreibe ich gegen das eigene Vergessen. Vielleicht ist es der Versuch, dem eigenen Leben eine Bedeutung zu verleihen, die es sonst nicht hätte. Vielleicht ist es ein Akt der Befreiung aus engen, selbst gesteckten Grenzen oder die späte Rebellion gegen gesellschaftliche Zwänge. Vielleicht ist es die Hoffnung, wieder zu finden, was sich im Laufe der Zeit unmerklich ins Nichts verflüchtigt hatte.
Ich habe keinerlei literarische Ambitionen. Dazu stehe ich und ich sage es ohne jede Koketterie. Die Frage bleibt, warum ich diesen Blog, mit anderen Worten, warum ich öffentlich schreibe. (Auch wenn es mit fast absoluter Sicherheit niemand liest…) Warum ich nicht einfach ein Tagebuch führe. Mir ist bewusst, dass ich diesen Widerspruch nie ganz glaubwürdig rechtfertigen kann.

Dienstag, 10. November 2009

Mauerfall

In einem Interview mit einer Fernsehjournalistin schilderte Hillary Clinton, wie sie den Mauerfall erlebt hat. Sie und ihr Mann seien wie gebannt vor dem Fernseher gesessen und hätten es kaum fassen können, dass sie Zeugen eines Ereignisses von solch historischer Bedeutung seien. Ähnlich ist es damals mir ergangen.
Das Beste, was mir in den verschiedenen Beiträgen zum 20. Jahrestag des Mauerfalls geboten wurde, war ein Gespräch mit Joachim Gauck im Radio. Der Mitbegründer des Neuen Forums erzählte aus seinem Leben in der DDR, von seinem Schlüsselerlebnis, das ihn politisiert hat, als sein Vater ohne Vorwarnung abgeholt und nach Sibirien deportiert wurde, lediglich aufgrund eines unbegründeten Verdachts und ohne rechtliches Verfahren.
Das sozialistische System erlebte er seither als menschenverachtend, die Freiheit als erstrebenswertestes Gut. Gauck gehört nicht zu den Nostalgikern, die sagen, man hätte das sozialistische System reformieren können. Deren Lamento gegen den Kapitalismus nimmt er nicht ernst, er nennt sie Milieulinke, die sich nicht die Mühe nehmen, genau hinzusehen, weil das nicht in ihr Konzept passe. Es sei doch klar, dass im Westen auch nicht alles zum Besten sei, trotzdem freue er sich täglich über die Freiheit.
Gorbatschow glaubte auch daran, der Kommunismus sei reformfähig. Einer der Kommentatoren sagte über ihn, er sei im Grunde genommen ein naiver Politiker gewesen. Zum Glück war er das. Gandhi war auch ein Naiver. Er hat an die Gewaltfreiheit geglaubt und damit die Geschichte verändert.
Die Welt lässt sich gewaltfrei zum Bessern verändern. Das ist für mich die wichtigste Botschaft des Mauerfalls.

Samstag, 7. November 2009

Nichts gelernt

Imre Kertész wird morgen 80. In einem Interview spricht er über den Holocaust, den Totalitarismus und die Kritiklosigkeit der Menschen. Noch nie habe ich einen so klaren, treffenden Kommentar gelesen über das vergebliche Bemühen, das Unfassbare einzuordnen.
Ich weiss noch, wie wütend ich war, als ich damals im Kino den Film „Schindlers List“ anschaute. Alle um mich herum waren erschüttert, ich war wütend. Wütend über die optimistische Grundhaltung dieses Films, die ich als zynische Verharmlosung erlebte. Ich kannte mehrere Dokumentarfilme, die sehr viel eindrücklicher Zeugnis ablegten vom Grauen, für das es keine Adjektive gibt, wie Imre Kertész sagt. Ich war wütend, weil da Menschen sassen, die sich offenbar nie darum bemüht hatten, sich eine Vorstellung über das Geschehene zu machen und sich nun rühren liessen von einem Film, der, nach Hollywood-Spielfilm-Manier gedreht, selbst in seinen schlimmsten Szenen noch beschönigend und versöhnlich ist.
Mag sein, dass der Film in den Besuchern wenigstens eine leise Ahnung des Grauens wecken konnte. So jedenfalls wurde mir gegenüber argumentiert. Ich fand, das genüge nicht. Ich war der Meinung, dass es einen Schock brauche, von dem man sich nicht mehr erhole, damit so etwas nicht wieder passieren könne. Kertész spricht aus, was ich damals empfand, aber nicht formulieren konnte: „Der Holocaust ist kein deutsch-jüdischer Krieg (…) Der Holocaust ist ein universelles Versagen aller zivilisatorischen Werte. Lange Zeit habe ich gedacht, wir hätten daraus etwas gelernt. Aber ich lag falsch.“ Genau das macht mich auch heute noch so wütend.
Noch andere Dinge bringt Kertész auf den Punkt, schonungslos offen, auch sich selber gegenüber. Über die Diktatur sagt er, sie erlöse den Menschen, es sei eine ganz grosse Erleichterung, wenn einem das Denken abgenommen werde. So bleibe auch die persönliche Verantwortung auf der Strecke. Und ohne diese persönliche Verantwortung sei der Mensch Kind. Totalitarismus bedeute eine infantilisierte Gesellschaft.
Womit Kertész als 80jähriger Intellektueller kaum in Berührung kommen dürfte, sind die heutigen professionellen Marketing- und PR-Maschinerien, deren Omnipräsenz die Kritikfähigkeit ebenfalls untergräbt und die Menschen letztlich infantilisiert. Zu den "Denkabnehmern" gehören aus meiner Sicht auch die religiösen Glücksversprecher. Auf die Frage, ob zum Ende des Lebens die Hinwendung zur Religion erfolge, sagt Kertész: „Bei mir nicht.“
Ich glaube, ich kann ihn verstehen.

Donnerstag, 5. November 2009

Freier Wille

Meine Mutter ist mit ihren 94 Jahren geistig noch wach, wenn sie spricht, wirkt sie noch immer wie ein junges Mädchen. Aber sie verliert rasend schnell an Kraft. Zum ersten Mal mache ich mir Sorgen um sie. Sie hat gesagt, dass sie keinen Willen mehr habe.
Unser Wille ist es doch, der uns zu dem macht, was wir sind. Ob es so etwas wie einen freien Willen tatsächlich gibt oder ob wir bloss hirngesteuert sind, spielt dabei gar keine Rolle. Wir erleben unsere selbst getroffenen Entscheidungen als freien Willen. Nur das zählt. Die Freiheit zu entscheiden, was wir als nächstes tun, ob wir planen oder uns dem Zufall überlassen, ob wir uns einem Zwang unterwerfen oder uns dagegen auflehnen, ob wir etwas ignorieren oder ob wir es beachten, ob wir Angefangenes fortfahren oder beenden, und, und, und... ob es für uns wichtig ist, an einen Gott zu glauben oder nicht... Das Bewusstsein unseres Willens - ob frei oder gesteuert - macht uns zu autonomen Wesen.
Das bringt mich zurück zur Diskussion um die Sterbehilfe. Meine Mutter spricht zwar davon, sich selber ein Ende zu setzen, aber ich weiss, dass sie es niemals tun würde, weil sie es nicht wirklich will. In helle Panik versetzt sie jedoch die Aussicht, irgendwann in einem Pflegeheim dahin zu vegetieren, auf fremde Menschen angewiesen zu sein, keine Intimität mehr zu besitzen. Das ist ihre grösste Angst, eine Angst, die sie langsam auffrisst. Ich kann sie verstehen. So zu sterben hat nichts mit Würde zu tun. Sich einer solchen Demütigung durch den selbst gewählten Zeitpunkt des Todes zu entziehen, hat meiner Ansicht nach sehr viel mehr mit Würde zu tun. Selbstverständlich nur, wenn es meine eigene (vielleicht nur eingebildete) freie Entscheidung ist und nicht jemand die Entscheidung für mich getroffen hat.
Wenn kirchliche und religiöse Kreise die unsägliche Behauptung aufstellen, würdevoll zu sterben bedeute auszuharren bis zum klinisch messbaren Tod, bis unsere Körperfunktionen einfach eine nach der andern aussetzen, dann frage ich mich, warum sie nicht mehr gegen das tatsächlich sinnlose Töten tun. Sie engagieren sich mit Härte überall dort, wo eigentlich ihre Milde, ihr Verzeihen, ihr Verständnis gefragt wäre, sie machen Menschen zu Schuldigen, denen sogar der Allah der Taliban und der katholische Gott die Schuld erlassen würden, aber sie engagieren sich nicht mit all ihrer Macht gegen das Abrichten der Menschen zu Kampfmaschinen, gegen die Absurdität, dass im Krieg junge Menschen auf junge Menschen schiessen müssen.
Ich wünschte mir, ich könnte die Spiritualität, die ich einmal besass, wieder finden. Vielleicht hat derjenige Recht, der gesagt hat, nur ein Atheist könne ein ethischer Mensch sein, weil er die Verantwortung seines Tuns jederzeit selber trage.

Mittwoch, 4. November 2009

In Würde?

Der Bundesrat will die Palliativpflege ausbauen, hauptsächlich als Alternative zur aktiven Sterbehilfe, für die er strenge Regeln aufstellt, und die er gegenüber der jetzigen Praxis stark einschränken will. So könnten nur noch Todkranke aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen, während Chronischkranke, die unter unerträglichen Schmerzen leiden oder sich in einer ausweglosen Situation befinden, wieder zu illegalen Mitteln greifen müssten, wenn sie freiwillig aus dem Leben scheiden möchten.
Vor einigen Monaten machte in Italien der Fall Schlagzeilen, von der jungen Frau, die während 17 Jahren im Koma gelegen hatte und nur noch dank künstlicher Ernährung am Leben gehalten wurde. Die Eltern erwirkten via Gerichtsurteil, dass ihre Tochter von den Schläuchen abgehängt und eines natürlichen Todes sterben konnte. Berlusconi und die Kirche sind gegen das Urteil Sturm gelaufen; die Frau starb kurz bevor es wieder aufgehoben wurde.
Man muss sich das vorstellen: die Frau lag 17 Jahre an Schläuchen, unbeweglich, ohne jede Chance, sich jemals äussern zu können, ohne jede Hoffnung, dass sie jemals erwachen würde. Sicher, man kann nicht wissen, was das Leben für Menschen in ihrer Situation bedeutet. Aber selbst, wenn sie noch irgend etwas mitbekommen hat, was war das? Die Geräusche im Krankenzimmer, die Schritte des Pflegepersonals, den Geruch der Desinfektionsmittels, das Oeffnen des Fensters, das Schliessen der Türe? Vielleicht hörte sie die Stimmen der Eltern, vielleicht verstand sie sogar, was sie sagten. Ich glaube das zwar nicht, aber nehmen wir mal an, es wäre so gewesen, wie muss es für sie gewesen sein? Sie lag da, eingesperrt in einem für die Vorstellung unfassbaren Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt, sie lag einfach da, hilflos, reglos, verdammt zu Stummheit, Untätigkeit, Unfreiheit, Unbeweglichkeit, Widerspruchslosigkeit, zum ewig gleichen Rhythmus, Sekunde für Sekunde, Minute für Minute, Stunde für Stunde, Nacht für Nacht. So oder so "lebte" sie nur noch durch künstliche medizinische Hilfe. Gottgewollt???
In der Diskussion um die Sterbehilfe argumentieren die Gegner, dass das Leben von Gott geschenkt und der Freitod eine Sünde sei. Mit salbungsvoller Stimme und frommem Blick erklärte kürzlich ein katholischer Priester, dass Chronischkranke in ihrem Leiden einen Sinn erkennen könnten und dass Todkranke das Leben bis zum Schluss annehmen sollten, bis Gott es zurücknehme. Damit hätten sie Gelegenheit, „in Würde zu sterben“. In Würde???
Ich weiss nicht, ob ich den Mut hätte, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Aber ich denke oft darüber nach, welch würdelose Situation die Menschen in unserer Gesellschaft ertragen müssen, wenn sie alt und „zu nichts mehr zu gebrauchen“ sind, allein gelassen von ihren Familien, abgeschoben ins Pflegeheim, wo sie routinemässig versorgt und mit wildfremden Menschen zusammen in ein Zimmer gesperrt werden, wo man sie behandelt wie Kinder und wo sie nichts anderes mehr zu tun haben, als auf den Tod zu warten. In Würde??? Womöglich werden sie dann auch noch an Schläuche angehängt, damit das Martyrium noch etwas andauert, und wenn sie Pech haben, kommt dann auch noch ab und zu der frömmliche Priester und labbert etwas von würdevollem Sterben.
Die katholische Kirche mit ihrer blutigen Geschichte äussert sich kaum zum weltweiten Töten, im Gegenteil: sie rechtfertigt indirekt Kriege im Namen der Religion, sie schweigt, wenn es um die Verfilzung zwischen Politik und Camorra geht, sie machte und macht sich zur Komplizin korrupter Regierungen, stand immer auf der Seite der Macht, auch wenn diese sich gegen das Volk richtete, sie erteilt Holocaust-Leugnern Absolution, sie schwingt sich zur Hüterin der alleinigen Wahrheit auf, spricht von Erbsünde und Fegefeuer und all dem Blödsinn, sie glaubt entscheiden zu dürfen, was moralisch und was unmoralisch ist, fordert schafgläubige und kritiklose Anhängerschaft. Sie kämpft nicht für Gerechtigkeit, sondern für den eigenen Machterhalt. Sie lindert nicht die Gewissensnot der Menschen, nein, sie erklärt Menschen zu Schuldigen, die ihr Schicksal nicht mehr ertragen können.
Mir wird schlecht ob so viel zynischer Heuchelei.

Dienstag, 3. November 2009

Lissabon Februar 2009

Im unterkühlten Lokal warte ich auf einen Kellner, der sich vielleicht womöglich irgendwann mal nach meinen Wünschen erkundigt. Über den Bildschirm des Fernsehers flackern tonlose Bilder, aus einem Lautsprecher singt eine junge Frauenstimme auf Portugiesisch, vermutlich einen Schlager, zwei vereinzelte Gäste sitzen vor ihrem Bier, neben mir an der langen Theke essen Angestellte schweigend eine Art Eintopf. Es ist kurz nach halb sieben. Ich bin zu früh, hier isst man erst spätabends, ich weiss, aber ich habe Hunger und muss etwas im Magen haben, bevor ich meinen Begleiter treffe. Noch bis übermorgen ist er hier, beruflich, danach fliegt er zurück, ich werde noch bleiben, für heute Abend hat er Karten besorgt für das War Requiem von Benjamin Britten im Grande Auditorio Gulbenkian.

Lissabon ist mein erstes, bewusst gewähltes Ziel nach der Pensionierung. Da wollte ich schon immer hin. Mit der Swissair flogen wir viele europäische Städte an, von den meisten hatte ich zumindest einen flüchtigen Eindruck, wenn auf unseren Rotationen irgendwo ein Nightstop eingeplant war, in Madrid, Helsinki, Manchester oder Budapest. Aber in Lissabon war ich noch nie. Nachdem ich Pascal Merciers «Nachtzug nach Lissabon» gelesen, fast verschlungen hatte, gleich nachdem das Buch erschienen war, bin ich noch neugieriger geworden.

Mein Reiseführer-Portugiesisch reicht nicht aus, um auch nur annähernd zu erahnen, worum es sich bei den Speisen auf der Menukarte handelt. Der Kellner kann zum Glück ein wenig Englisch. Ich erkläre ihm, dass ich nur etwas Leichtes essen möchte, er zeigt auf ein Tagesmenu auf der Karte und sagt etwas, was ich nicht ganz verstehe, Steak, Veal, Lamb...?, fragt er. Lamb?! Ja, das tönt gut, bringen Sie mir einen Salat mit einem Lammkotelett, will ich sagen, aber er hört mir schon nicht mehr zu, lächelt triumphierend, ich werde sehen, es werde mir bestimmt schmecken. Dann rät er mir noch, den Salat besser wegzulassen, was ich etwas verwundert ablehne, worauf er sich achselzuckend umdreht und durch die Schwingtüre in die Küche verschwindet.

Was der Kellner mir empfohlen hat, stellt sich als derselbe Eintopf heraus, den die Angestellten gegessen hatten, eine Art Irish Stew, Kartoffeln und Lammstücke mit viel Knochen und Fett, in einer Tomaten-Zwiebelsauce gekocht, serviert in einer verbeulten Alupfanne, bei den Portugiesen ein beliebtes Gericht, wie mir der Kellner verrät, den Namen des Gerichts vergesse ich nachzufragen. Die Portion ist viel zu gross, mehr als die Hälfte gebe ich zurück, den Salat, so üppig wie eine Mahlzeit, hätte ich tatsächlich besser weggelassen.

2. Tag, gegen Mittag, im Café Museu Fundação Calouste Gulbenkian

Die Morgensonne spiegelt sich im Teich des Parque de Palhava und wärmt die Terrasse des Selbstbedienungsrestaurants langsam auf. Eben habe ich mir die Sammlung im Gulbenkian-Museum angesehen. Als Verlegerin und Freundin hat Yvonne-Denise mir geraten, kein enzyklopädisches Wissen aufzuschreiben, also nichts von dem, was man googeln oder in jedem Reiseführer lesen kann, also lasse ich es, obwohl die Geschichte dieses Calouste und seiner Kunstsammlung wirklich ziemlich aussergewöhnlich ist.

Ich ging früh los heute Morgen. Während des Aufstiegs durch den Parque Eduardo VII kostete ich das Gefühl aus, einfach nur hier zu sein und zu geniessen. Oben blieb ich stehen und verdrückte verstohlen eine Träne beim Anblick auf die Stadt, die sich im kühlen Morgenlicht vor mir ausbreitete und rechts und links die Hügel hinaufkroch, während geradeaus im Hintergrund die Dunstschwaden aus dem Tejo aufstiegen. Einfach nur schön. Der Tag, die Aussicht, das Gefühl, unabhängig und frei und ohne jede Verpflichtung zu sein. Kein Druck mehr, keine Verantwortung, ich habe es noch keine einzige Sekunde bereut, mich früher pensionieren zu lassen, um vielleicht doch noch den Roman zu wagen, den ich seit 20 Jahren mit mir herumtrage, den Versuch, die Ambivalenz in Worte zu fassen. Keine Ahnung, ob ich das kann und ob das überhaupt möglich ist.

*

Das Museum öffnete um zehn, das liess mir Zeit, die verschlungenen Wege des Parque de Palhavã entlang zu schlendern, ganz langsam, jede Sekunde geniessend zwischen tropischen Bäumen und Sträuchern, an lauschigen Ecken, Wasserläufen, kleinen Teichen und Skulpturen vorbei bis zu einem kleinen Amphitheater in der Mitte, wo die Leute vor der Arbeit ihre Zeitung lesen und sich von der Sonne wärmen lassen. Eine Oase der Ruhe, die sich ganz unerwartet auftut. 

Schon der erste Raum mit der 3000 Jahre alten Maske eines Pharaos aus Obsidian liess mich vor Ehrfurcht erschauern. Die Schätze sind kaum aufzuzählen, Münzen, Töpfereien, Teppiche, Fayencen, Kacheln, Objekte aus Porzellan, Elfenbein, Alltags- und religiöse Kultgegenstände, handgeschriebene und -gemalte Bücher, Möbel, Bilder... Ich betrachtete diese Kostbarkeiten von unermesslichem Wert und einer zeitlosen Schönheit, die jede Grausamkeit der Geschichte überdauert.

Zur Gulbenkian-Stiftung gehört das Auditorium, wo wir gestern Brittens War Requiem gehört haben. Mir schien, als hätte ich noch nie einer so traurigen Musik voll verzweifeltem Schmerz zugehört. Die Intensität dieses Werks hat mich tief berührt, auch wenn mir Britten nicht so vertraut ist, vielleicht, weil ich meistens dann ins Konzert gehe, wenn Musik gespielt wird, die ich bereits kenne und liebe. Ich nahm mir vor, mich vermehrt wieder auf Neues einzulassen. Neben mir beantwortete eine jüngere, attraktive Frau während des ganzen Konzerts sms, die von Zeit zu Zeit fast im Minutentakt surrend aufblinkten, mich amüsierte die Vorstellung, wie in einem solchen Fall die älteren Damen und Herren in der Tonhalle sich empört danach umgedreht hätten, gleichzeitig nervte es mich, es störte meine Konzentration beim Zuhören, ich fand es respektlos und wunderte mich, dass offenbar niemand ausser mir sich darüber ärgerte.

Gegen Abend, im Park vor der Estufa Fria

Vor mir glänzt der grosse künstliche Weiher im kleinen, sorgfältig gepflegten Park, versteckt am Fuss eines kleinen Abhangs seitlich des Parque Eduardo. Ich sitze hier ganz allein und ungestört, nur in Gesellschaft einer Schar Enten, Gänse und Hühner, die aufgeregt miteinander schnattern, und lese meine Notizen. Für heute habe ich genug. Tut gut, sich in dieser stillen – na ja, nicht ganz stillen – Oase von der Hektik der Stadt zu erholen.

Museu de Arte Moderna: Sonderausstellung mit Werken von Heimo Zobernig, einem 1958 geborenen Künstler aus Wien, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Seine Kunst ist für mich erklärungsbedürftig. Aber das liegt wohl eher an meinem mangelnden Sachverständnis. Als Laiin ist es nicht immer leicht, Kunst als solche zu erkennen.

Corte Inglés: Grösstes Warenhaus von Lissabon. Letztlich unterscheidet es sich kaum von Jelmoli oder Globus, vielleicht etwas weniger gediegen, aber mit vergleichbarem Angebot. Von Emporio Armani sah ich ein verführerisches Jäckchen, worauf eine 50prozentige Preisreduktion angeschrieben stand. Ich dachte, dass ich es mir vielleicht leisten könnte, aber als ich das Schild drehte, betrug der halbe Preis 1500 Euro. Nichts für Durchschnittsverdiener. Nicht einmal für mich, die ich aus der reichen Schweiz komme.

Die meisten Menschen hier sind freundlich und zuvorkommend und sprechen Englisch. Die Verständigung ist – zumindest bis jetzt – mit wenigen Ausnahmen kein Problem gewesen.

Lisboa, die Stadt der sieben Hügel, hat mich in ihren Bann gezogen. Jetzt, mitten im Februar, ist es 18 Grad warm und der Himmel stahlblau und klar – der Frühling liegt förmlich in der Luft.

3. Tag, morgens, Café Nicola beim Rossio

Es ist angenehm frisch, aber nicht zu kühl hier draussen, an einem der Tische des Art Déco-Cafés Nicola, von wo ich auf den Rossio blicke mit seiner wunderschönen wellenförmigen Pflästerung, laut Reiseführer nicht nur der schönste Platz, sondern auch einer der beliebtesten Treffpunkte der Lissabonner. Das Leben hier erinnert mich an meine Jugend in Bern, wo wir oft Abende lang vor dem Grotto am Bärenplatz zusammensassen, die Passanten begutachteten und darüber diskutierten, wie wir die Welt verbessern wollten. Es war eine intensive Zeit damals, wir waren engagiert, glaubten an unsere Mission, wir wollten alles verändern und kämpften für Gerechtigkeit, wie wir sie verstanden. Und es war die Zeit, als ich gefangen war in meiner ersten, vollkommen verblendeten Liebe zu dem Mann, der mein Selbstwertgefühl zerstört hat, das ich mir mühsam wiederaufbauen musste. Es hat Jahre gedauert. Manchmal denke ich, dass ich nie die geworden bin, die ich hätte sein können.

Hier sitzen kaum Touristen, wie ich befriedigt feststelle, die Gäste sind Portugiesen, fast nur Männer, meist ältere, die hier ihren Kaffee trinken und ihre Zeitung lesen. Überhaupt gehören die Cafés hier noch zum Lebensstil. Ich kann nur hoffen, dass man nicht die gleichen Fehler machen wird wie in der Schweiz, wo viele solcher traditionsreicher Lokale zu Tode modernisiert und ihrer unvergleichlichen Atmosphäre beraubt wurden.

Beim freundlich blickenden Kellner bestelle ich primeiro um cappuccino e depois uma bica e um copo do água natural. Ob er mein holpriges Portugiesisch versteht, ist ihm nicht anzusehen, aber er nickt, dreht sich um und bringt mir schon nach kurzer Zeit tatsächlich zuerst den Cappuccino, und als ich diesen getrunken habe, räumt er sogleich die leere Tasse ab und stellt mir den Espresso samt Wasser hin. Wirklich sehr aufmerksam.

Gestern fuhren wir ins Museu Colecção Berardo im Centro Cultural de Belém, das bis spätabends geöffnet hat. An der Praça do Império in Belém stiegen wir aus. Der Platz macht seinem Namen alle Ehre. Selbst im schwachen Licht des Sternendachs vermittelte die nur noch in Konturen erkennbare Anlage den Eindruck imperialer Weitläufigkeit.

Im MCB versammelt sich die Kunst grosser Namen, vergleichbar mit den Werken in anderen wichtigen Museen. Neu und beeindruckend waren für mich zwei Video-Performances, eine reglose, in sich versunkene Tischrunde nach üppiger Mahlzeit, über deren Reste die Kamera fast im Zeitlupentempo wandert, zugleich schön und abstossend, dazu Musik von Bach; eine Art Stillleben einer übersättigten, ganz auf sich bezogenen Wohlstandsgesellschaft, eindringlicher noch als die Eat-Art Daniel Spoerris. Faszinierend auch das lebendige Innenleben einer Pflanze als farbig glänzender Strom, der sich in der langsam herangezoomten Nahaufnahme als das hektische Treiben der Menschen erweist. Der Künstler mit der Pflanze war, glaube ich, ein Tscheche, die Künstlerin mit dem Stillleben eine Bielerin, die in Brüssel lebt, ich habe vergessen, die Namen aufzuschreiben.

Eine Sonderausstellung war der portugiesischen Malerin Maria Helena Vieira da Silva gewidmet. Ihre Bilder sprachen mich an, formal und inhaltlich – aber vor allem mochte ich sie, weil sie meinem ästhetischen Empfinden entsprachen. Ich fand sie schlicht und einfach schön. Was Bendicht vermutlich zu zynischen Bemerkungen über mangelnden Kunstsachverstand veranlasst hätte, seiner Ansicht nach darf Kunst nicht nach ästhetischen Kriterien beurteilt werden. Wenn ich mich richtig erinnere, sagte er sogar, das landläufige Harmonieempfinden habe in der Kunst nichts verloren. Ich weiss nicht genau, wie er es meinte. Vielleicht dachte er an die Leute, die Kunst nur als farblich passende Dekoration für ihre Wände kaufen.

Auf dem Nachhauseweg fuhren wir mit der Electrico bis zur Praça do Comércio und gingen zu Fuss über die Rua Augusta zum Rossio und weiter zur Avenida da Liberdade. Beeindruckt war ich vom Jugendstil-Bahnhof Rossio, mit den gebogenen, schmiedeisern verzierten Eingangstore. Sie sind von solch nobler Eleganz, wie sie nur noch in der nostalgischen Aura schon leicht vergilbter Grand-Hotels der Jahrhundertwende anzutreffen ist, wo sich die Damen Buddenbrook und Wesendonck ihre im Überfluss vorhandene Zeit – bezahlt von ihren vom ausbeuterischen kolonialen Handel reich gewordenen Männern – mit Konversation vertrieben und dabei ihre Töchter und Söhne zwecks Anhäufung noch grösseren Reichtums und Macht innerhalb der immer gleichen weit verzweigten Familien verkuppelten.

Am Nachmittag, im Zug nach Estoril

Der Zug fährt dem Tejo entlang durch die Vororte Lissabons westwärts ans Meer und hält an jeder Station. Ich bin unterwegs zu Cathrin. Wir treffen uns in Estoril. In meinem Abteil sitzt ein quengelndes Kind. Der etwa zwei Jahre alte Junge ist offensichtlich zum Umfallen müde, aber es gelingt ihm nicht, den Schlaf zu finden. Ich fühle mit der Mutter, die mit liebevollem Zureden und viel Ablenkungsmanövern alles tut, um den Jungen einigermassen ruhig zu halten. Der Vater sitzt gegenüber und spricht alle zehn Minuten ein lautes Machtwort, was noch viel weniger nützt. Ich lese meine unterwegs notierten Eindrücke:

Elevador de Santa Justa:  Gestern Nacht schien mir die beleuchtete filigrane Eisenkonstruktion eleganter und leichter als jetzt am Tag. Eine Schaffnerin kassiert beim Eingang das Fahrgeld und sorgt dafür, dass nicht zu viele Leute den Lift überfordern, die Zeit scheint stillzustehen in den beiden dunkel getäferten Kabinen, welche die Passagiere langsam nach oben ruckeln.

Rundsicht von der Plattform: Die obere Plattform bleibt im Februar geschlossen, eine Kette versperrt den Zugang. Leider, denn das Maschengitter der unteren Plattform schmälert meinen ungetrübten Genuss des Rundblicks auf die Stadt in kachelweiss bis hellem Terracotta, links die schnurgerade Avenida da Liberdade und der Parque Eduardo, die sich zwischen den Häusern wie ein breites, grünes Tal nach oben am Horizont verlieren, rechts quer dazu der Tejo, der sich in Erwartung seiner baldigen Vermählung mit dem Meer immer mehr ausweitet und sich mit dem trüben Blau des Himmels vermischt, im Hintergrund noch knapp erkennbar die vom Dunst weichgezeichnete Ponte 25 de Abril, geradeaus, auf gleicher Höhe wie die Plattform, die mächtige Mauer mit den gezackten Türmen des Castelo de São Jorge, in der Tiefe dazwischen die Baixa, der zwischen der Praça do Comércio und dem Rossio streng geometrisch gebaute Altstadtteil, dessen schnurgeraden Längs- und Querstrassen sich von so hoch oben wie ein Stadtplan lesen lassen.

Blick hinter die Kulissen: Über den Eisensteg, der den Elevador mit dem Chiado verbindet, vorbei am einladenden Plätzchen Largo do Carmo, durch kleine Gässchen schräg den Hügel hinauf Richtung Rato. Häuser in erbärmlichem Zustand, verfallen, meist leer, nur noch durch Stahlgerüste zusammengehalten, Trottoirs mit herausgerissenen Pflastersteinen, verlotterte Geschäfte mit verstaubten Auslagen hinter blinden Schaufenstern, ganze Häuserzeilen sanierungsbedürftiger Gebäude.

Der Wohlstand, den Portugal nicht nur, aber nicht zuletzt dank des EU-Beitritts aufbauen konnte, hat längst nicht alle erreicht, profitiert haben, wie immer, vor allem die Privilegierten der Gesellschaft. Ich frage mich, ob der weltweiten Rezession als Folge der Finanzkrise nun eine Depression und eine hohe Inflation folgen, ob nun alles, was sich so gut entwickeln konnte, für lange Zeit gestoppt oder gar rückgängig gemacht, ob nun alle Hoffnungen zerschlagen werden. Auch meine.

                                                           ***     

Nachtrag 2020: Wie wir heute wissen, hat sich die Weltwirtschaft nach der Finanzkrise einigermassen rasch wieder erholt. Auch jetzt, in Coronazeiten, werden wieder viele Hoffnungen zerschlagen. Ich fürchte, dieses Mal wird es schlimmer werden. Für mich persönlich habe ich keine Angst, aber ich mache mir Sorgen um die Zukunft meines Sohnes und seiner Familie. Mein Sohn meint, mein Pessimismus helfe niemandem, und mein Bruder findet auch, man sollte sich grundsätzlich keine Sorgen machen. Denn es komme, wie es komme, und die Menschen würden lernen sich anzupassen, wie sie es immer getan hätten. Wahrscheinlich ist das so. Aber schön wäre es trotzdem zu wissen, dass es den Kindern gut geht.

***

4. Tag, morgens, im Café A Brasileira

Ehrfürchtig sitze ich an meinem achteckigen Marmortischchen zuhinterst im Café A Brasileira, wo auch Fernando Pessoa gesessen und sein «Buch der Unruhe» geschrieben hat, das Buch, das Egon mir geschenkt hat, als er hörte, dass ich nach Lissabon fliege, der Verleger aus Leidenschaft, dessen Besessenheit für die Literatur ich immer bewundert habe, weil sie echt war und nichts mit der Bildungsbeflissenheit zu tun hatte, mit der viele Leute nur die von der Literaturkritik empfohlenen Bücher lesen. (Wer jetzt glaubt, ich sage dies als frustrierte Autorin, der täuscht sich. Ich sage das als Leserin und ehemalige Buchhändlerin, die viele gute, lehrreiche, durchaus relevante, von der Literaturkritik ignorierte Bücher kennt, darunter auch ganz viele Krimis.)

Ich liebe es hier. Alles. Die Patina vergangener Zeiten, das dunkle Jugendstil-Interieur mit den deckenhohen, goldgefassten Spiegeln, die Kassettendecke, von deren braunrotem Grund mehrarmige Leuchter und Ventilatoren aus Messing herabhängen, die lange, gerade Theke, die vom Eingang bis ganz nach hinten führt, die Bar mit den aufgereihten Flaschen an der Wand, darüber die Bilder, über deren unterschiedliche Qualität man streiten könnte, gegenüber die Tische mit den schmiedeisernen Füssen, den schwarz-weissen Marmorplatten und den lederbesetzten Holzstühlen, dazwischen der schmale Gang, durch den die Kellner in schwarzen Hosen und weissen Hemden geschäftig hin und her eilen. Unter den Gästen Einheimische und Fremde. Offenbar ist das Café ein beliebter Treffpunkt der Alteingesessenen geblieben, obwohl es in jedem Reiseführer erwähnt ist und – so nehme ich an – täglich Scharen von Touristen anlockt.

Der Abend mit Cathrin war eine neue Erfahrung. Auch wenn ich sie kaum kenne, spürte ich eine Offenheit mir gegenüber, wie sie vielleicht nur unter Frauen möglich ist. Wir setzten uns auf die Steinstufen am Meer, atmeten den salzigen Geruch ein, sahen dem Treiben der Menschen am Strand zu, tranken den Wein und assen den Käse, den sie mitgebracht hatte, unterhielten uns und genossen das langsame Einnachten im Freien. Irgendwie verrückt, an die Küste zu fahren, um eine mir fast unbekannte Frau zu besuchen. Sie ist Musikerin, ich traf sie nach einem ihrer Auftritte in Zürich, kurz darauf hat sie sich mir als Künstlerin empfohlen, als ich für das Programm im Rotary-Club verantwortlich war. Sie ist aus Berlin, sehr selbstsicher, sehr bestimmt, vielleicht ein bisschen zu selbstverliebt, aber ihre Gesellschaft war anregend und ich habe den Abend genossen, das Meer, die salzige Luft, die Ruhe, das leise Zischen der zusammenbrechenden Wellen, die weissen Schaumkrönchen, die langsam ihre weiten Bogen in den Sand malen, um sich gleich darauf wieder versickernd zurückzuziehen.

Heute will ich ins Castelo. Wie ich gesehen habe, ist die Buslinie 37 die direkteste Verbindung von der Praça Figueira ins Castelo São Jorge. Das trifft sich gut. Der Bus ist das letzte öffentliche Transportmittel, das ich noch nicht ausprobiert habe. Zumindest an Land. Die Metro hat mich beeindruckt, sie ist topmodern. Meine Assoziation zu Lissabon verband ich eher mit der alten Electrico, in der ich auf Holzbänken zurück von Belém ins Zentrum fuhr. Oder mit dem Elevador da Glória; kein Lift, wie man aus dem Namen schliessen könnte, sondern eine der drei gelben Standseilbahnen, die in jedem Reisekatalog abgebildet sind.

Nachmittags, im Café Nicola

Beim Castelo bildete sich bereits eine lange Schlange vor der Kasse. Zum Glück war die Burganlage gross genug für die vielen Besucher – ich fragte mich, ob das auch für die Sommermonate gilt, wenn die Stadt vermutlich von Touristen überquillt.

Ich bestieg alle Türme und konnte mich eines gewissen Stolzes nicht erwehren, dass ich dabei nicht einmal gross ins Schnaufen geriet. Die Stufen sind teilweise so hoch, dass ich mir überlegte, wie die Menschen da hochgekommen sind, die damals viel kleiner waren – also etwa so klein wie ich, haha. Aber das Türme erklettern machte Spass und die Aussicht auf die Stadt und den Tejo entschädigte für jede Mühe.

Auf einer beschatteten Steinnische in der Festungsmauer erholte ich mich etwas später von einem Schwächeanfall, der mich ganz plötzlich überfiel. Mir war schwindlig, meine Hände zitterten und meine Knie sackten ein. War das nun dem beginnenden Alter oder bloss der Tatsache zuzuschreiben, dass ich vergessen hatte zu trinken, was allerdings wiederum eine Alterserscheinung sein soll? Ich beschloss, mich bald auf den Rückweg zu machen und in der Nähe der Baixa noch etwas zu essen.

Jetzt überlege ich, was ich als Nächstes unternehmen will. Hier im Nicola kann ich nicht bleiben. Soll ich mit der Metro in die neuen Quartiere der Stadt und dort zum Calatrava-Bahnhof pilgern, soll ich mit der nostalgischen Electrico Nr. 28 in die ursprünglichen Quartiere Alfama und Graça fahren, wo sich laut Reiseführer «das einfache Leben» abspielt, oder soll ich mit dem Tram nach Belém und dort in der Confeitaria eines dieser berühmten Törtchen essen, die in Lissabon offenbar ebenso zum Pflichtprogramm gehören wie der Elevador oder das Castelo?

5. Tag, morgens, im Café A Brasileira

Meiner gestrigen Unentschlossenheit, was ich mit dem angebrochenen Sonntag noch anfangen sollte, hat schliesslich mein Appetit auf Süsses ein Ende bereitet. Also machte ich mich auf nach Belém, um zu kosten, was man mir von verschiedenster Seite auf so eindringliche Weise empfohlen hatte. Eine gute Entscheidung, wie sich bald zeigen sollte.

Vor der Confeitaria dos Pastéis de Belém standen die Leute bis weit auf die Strasse hinaus Schlange. Zwischen den zahlreichen Touristen mindestens genauso viele Portugiesen, ganze Familien, die warteten, bis die Mutter oder der Vater mit dem Sonntagskuchen aus dem Laden kam. Um nicht anstehen zu müssen, ging ich ins Café hinein. Verblüfft gelangte ich von einem kühlen, fensterlosen, blau-weiss gekachelten und bis auf den letzten Stuhl besetzten Raum in den nächsten, mal in einen kleinen, mal in einen grösseren, bis sich zuhinterst der grösste Raum auftat, wo die Gäste vor einer Absperrung geduldig warteten, bis ein Tisch frei und sie eingelassen wurden. Berühmte Süssigkeit hin oder her, aber das war mir dann doch zuviel. Ich drehte um und entdeckte auf meinen Weg zum Ausgang per Zufall einen jungen Mann, schätzungsweise Mitte zwanzig, der allein an einem Tischchen sass.

Es wurde ein zauberhafter Spätnachmittag und Abend. Kaum hatte ich mich hingesetzt, bat mich der junge Mann, mit seiner Kamera ein Bild von ihm zu machen und eröffnete mit den üblichen Fragen, woher ich komme, was ich hier mache, wie lange ich bleibe. Ich fragte zurück und erfuhr, dass er ein italienischer Student aus Bergamo war, der für drei Monate an der Uni in Lissabon an einer Studie arbeitet. Wir unterhielten uns angeregt auf Englisch, Französisch und Italienisch, und schliesslich wussten wir voneinander, dass wir uns für den Rest des Nachmittags die gleichen Dinge vorgenommen hatten.

Die Törtchen mundeten herrlich. Rezept und Herstellung stammen original aus dieser Confeitaria, wie Andrea wusste. Von unserem Tisch aus sahen wir durch eine Glasscheibe in die Backstube – wie im Demel in Wien –, wo die Törtchen auf riesigen Kuchenblechen in den Ofen geschoben, gebacken herausgeholt und mit flinken Händen vom heissen Blech auf die Teller verteilt wurden. Hätte Andrea nicht vorgeschlagen, unseren Weg gemeinsam fortzusetzen, womit ich – very pleased – selbstverständlich einverstanden war, hätte ich mir bestimmt noch ein paar mehr dieser gefährlich leichten Blätterteig-Gebäcke erlaubt, die schmecken wie Luisas Torta della Nonna.

Mosteiro dos Jerónimos: Das Kloster schloss schon um 17 Uhr seine Pforten, wir hatten gerade noch Zeit für einen kurzen Rundgang in der Kirche, wo das Licht der Abendsonne durch die grosse Rosette den Raum in warme, goldene Farben tauchte, und im reich mit Ornamenten verzierten, zweistöckigen Kreuzgang aus hellem Kalkstein.

Torre de Belém: Als wir ankamen, war er schon geschlossen. Dahinter ging die Sonne unter und malte einen kitschig goldig-roten Horizont an den Himmel, den Andrea unbedingt mit uns beiden davor fotografiert haben wollte, wofür er extra jemanden herholte und ihm die Kamera in die Hand drückte und genau erklärte, was er machen müsse, damit das Bild gut würde. Wo immer wir hinkamen, wollte Andrea, dass ich ihn fotografiere, für seine Freundin, die in Deutschland als Physikerin arbeitet, deren Eltern er in Rumänien besuchen wird, sie sollen sehr streng sein und er hat Angst, sie könnten ihn nicht mögen. Er war sehr jung und irgendwie rührend.

Bacalhau: Im Bairro alto suchten wir nach einem Restaurant, in das kein aufdringlicher Kellner die Touristen hereinzulocken versuchte, und fanden ein winziges Lokal, an dessen Wänden Fotos, Porträts, Zeichnungen und Karikaturen der Patrona hingen. Das Lokal war voll, die Gäste sprachen Portugiesisch, wir bekamen den letzten freien Tisch und die Patrona erkundigte sich höchstpersönlich nach unseren Wünschen. Ich war entschlossen, an meinem letzten Abend noch einmal typisch Portugiesisch zu essen und wählte auf Anraten Andreas den Bacalhau, so etwas wie das Nationalgericht der Portugiesen. Zu meiner Überraschung mochte ich den Stockfisch, klein gewürfelt und in einer dezent gewürzten Rahmsauce gekocht, zusammen mit Kartoffelstückchen serviert - in einer Schüssel, die locker für zwei Fuhrmänner gereicht hätte. Nach knapp der Hälfte gab ich auf.

6. Tag, mittags, am Flughafen notiert

Livraria Bertrand: Einen letzten Café im Brasileira wollte ich mir noch genehmigen, auf dem Weg dorthin wurde ich auf Lissabons älteste Buchhandlung aufmerksam, praktisch vis-à-vis des Cafés, an der ich bisher vorübergegangen bin, obwohl Buchhandlungen, besonders die alten, mich sonst überall anziehen. Sie faszinieren mich, weil sie mir buchstäblich vor Augen führen, wie wichtig Sprache ist, und dass wir keine Geschichte hätten ohne das Wissen, das in Büchern festgehalten ist. Ohne Bücher wären wir nichts. Ray Bradburys «Fahrenheit 451» erinnert daran, Umberto Ecos «Name der Rose», Carlos Ruiz Zafons «Im Schatten des Windes» und viele mehr.

Ich wollte nur einen Blick hineinwerfen und wurde ganz automatisch die paar Stufen hinab in den dunklen, niedrig erscheinenden Raum hineingezogen. Vom Eingang führt ein langer, gerader Gang weit nach hinten, links und rechts des Gangs reihen sich regelmässig gegenüberliegende Nischen mit Büchergestellen aus massivem, dunklem Holz, in den Nischen laden bequeme, alte und neue Sessel und Sofas zum Verweilen und Lesen ein. Stapel von herausgezogenen und nicht wieder oder noch nicht eingereihten Büchern vermitteln den Eindruck von Unordnung, obwohl alles streng gegliedert ist. Die Buchhandlung ist gut besucht, trotzdem ist es ruhig, fast still; der Respekt vor dem hier versammelten Geist der Jahrhunderte verleiht dem Ort eine noble Würde.

 

 

Freitag, 23. Oktober 2009

Colmegna Oktober 2009

Colmegna, das ist zunächst einmal ein verlassener Bahnsteig auf einem höher gelegten Trassee. Ein steiler, betonierter Weg führt hinunter ins Dorf, wo auf den ersten Blick nur eine Häuserzeile zu erkennen ist, die sich entlang der Strasse aufreiht. Genauer besehen versteckt sich dahinter gut getarnt ein kleines, in den Hang geklebtes Dorf mit engen, schattigen Gassen und einer Kirche, deren Campanile mit einsamen, melancholischen Glockenschlägen die Stunden verkündet.
Wie sich herausstellt, ist das Hotel Camin nicht die teuerste, aber die beste Adresse in der Umgebung. An schönster Lage, wo die Gäste freundlich empfangen und aufmerksam bedient werden. Absolut einmalig ist der schmale, langgezogene Park, der sich dem steilen Seeufer entlang an den Hang schmiegt und auf dessen verschlungenen Treppen und Wegen da und dort ein lauschiges Plätzchen zum Verweilen einlädt. Die Chefin empfiehlt mir das Gewächshaus, wo anstelle der Pflanzen geflochtene Sessel mit violetten und purpurnen, goldbestickten Kissen die Atmosphäre des Fin de siècle in Erinnerung rufen.

*

Ich warte auf den Bus nach Luino und verlasse mich darauf, dass ich den Fahrplan, aus dem ich nicht wirklich schlau geworden bin, richtig interpretiert habe. Einzelne, heftige Windböen eilen dem Sturm voraus, der für diese Nacht angesagt ist. Gekräuselte Wellen wandern quer über den See, weisse Schaumkrönchen blitzen auf, in der Ferne erstarrt die Bewegung im Sonnenlicht zur silbrig glänzenden Eisfläche. Zu meiner Überraschung taucht der Bus mit einigen Minuten Verspätung tatsächlich auf.

Das gläsernen Scheppern der Segelboote begleiten mich entlang der Seepromenade, der Wind bläst jetzt so stark, dass ich mich gegen ihn stellen muss, um nicht weggepustet zu werden. Eine Taube steuert vergeblich den Kandelaber als Landeplatz an, nach zwei misslungenen Versuchen gibt sie auf und lässt sich vom Windstoss in die andere Richtung davontragen. Der aufgewühlte See hat sich in der Zwischenzeit schwarzblau verfärbt und peitscht seine Wellen über die Ufermauer. Weit draussen entdecke ich ein einsames Segelboot. Selbst auf die Entfernung lässt sich erkennen, dass es sich um einen verbissenen Kampf handeln muss, die Segel tauchen mal als Strich, mal als kleine weisse Ovale auf, das Boot kann den Kurs nur schwer halten, von Zeit zu Zeit neigen sich die beiden Maste gefährlich tief zur Seite. Ein Mann gesellt sich neben mich und kommentiert die Szene. Es müsse sich wohl um eine grosse Barke handeln, er sei gestern auch draussen gewesen, aber heute wäre das Selbstmord, bei diesem Wellengang wäre er mit seinem Boot längst gekentert. Als ich nach rund einer Stunde wieder nach dem Boot Ausschau halte, sehe ich es nicht mehr.

Nachts tobte und lärmte und grollte der Föhnsturm, schlug herum, was nicht verankert war und riss mit, was nicht die Kraft hatte zu widerstehen. Erst gegen Morgen gab er sein Treiben langsam auf, und nach wenigen Stunden Schlaf erwachte ich bei strahlendem Sonnenschein, als ob nichts gewesen wäre. Die Zeitung schrieb von zahlreichen Schäden in der ganzen Umgebung. Von einem gesunkenen Boot stand nichts.

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Das Haus von Jacqueline und Walter liegt an einmaliger Lage zuoberst am Hang, mit Blick in beide Richtungen des Lago Maggiore. Ausschlaggebend war aber nicht nur die Lage, welche die beiden bewogen hat, das Haus zu kaufen, wie Jacqueline erzählt. Hier in Italien gebe es nicht diese Trennung der Generationen, wie in der Schweiz. Jung und Alt hätten einen viel natürlicheren Umgang untereinander. Und wer bereit sei, die schweizerische Perfektion nicht zum allgemeinen Massstab zu nehmen, der fühle sich hier wohl und gut aufgenommen, auch als Nicht-Einheimische.

Trotzdem ist das Gefälle zwischen den meist wenig verdienenden Einheimischen und den vergleichsweise gut situierten Halbjahres-Residierenden ein Problem. Schon jetzt, Mitte Oktober, sind die Fensterläden an vielen Häusern verriegelt, deren Besitzer erst im Frühjahr wiederkehren. Manche Geschäfte können im Winter kaum überleben. Und deshalb gibt es kaum Restaurants, wo man mal was anderes kriegt als Pizza oder Pasta, also das, was die Italiener sich leisten können. Jacqueline erzählt vom Haus mit den zwei Treppen in Luino, das jahrelang leer gestanden und dann sehr schön renoviert worden sei. Doch das Restaurant «Le due Scale» habe sich gerade mal einen Sommer gehalten.

Der Blick vom Balkon des Hauses ist überwältigend. Steil unter uns der See, der sich wie ein Fjord in beide Richtungen in der Ferne verliert und dessen glänzende Oberfläche sich seitlich vom gegenüberliegenden ans diesseitige Ufer bewegt, dahinter die braun-grünen Berge, die sich wie Kegel versetzt hintereinander stellen und deren Kuppen und Spitzen sich in der vom Föhnsturm geklärten Luft scharf konturiert vom tief blauen Himmel abheben. Das Licht ist so gleissend, dass meine automatische Kamera diese überwältigende Aussicht überbelichtet und sie im Dunst verschwinden lässt. 

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Von Dumenza marschiere ich zügig über die schmale, asphaltierte Strasse hinunter nach Colmegna. An besonnten Mauern räkeln sich die Eidechsen, die wie der Blitz verschwunden sind, wenn ich sie näher betrachten möchte. Während des Gehens in den engen Serpentinen sind nicht die allesamt zu schnell fahrenden Autos das grösste Problem, sondern die kläffenden Köter, die zähnefletschend die Gitter hinaufspringen und mich zu Tode erschrecken, wenn ich an ihnen vorbeigehe. Ich schicke ein Stossgebet zum Himmel und hoffe, dass die Tore gut verriegelt sind. Nach einer knappen Stunde bin ich im Dorf, wo es absolut ruhig und kein Mensch zu sehen ist. Fast ein bisschen surreal.

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Ich will nach Cannobio auf der anderen Seeseite. Um rechtzeitig zurück zu sein, muss ich das Schiff in Luino um 11.05 Uhr erreichen. Den Bus direkt vor dem Haus kann ich diesmal nicht nehmen, der fährt entweder zu früh oder zu spät, also wähle ich den Zug um 10.37 Uhr. Das wird reichen, um ohne grosse Eile zu Fuss vom Bahnhof bis zur Schiffstation zu gehen. Dachte ich...

Um 10.30 Uhr stehe ich wieder an der verlassenen Bahnstation, die einem alten Film entnommen sein könnte. Aus dem rostig-braunen Schotter der eingleisigen Bahnstrecke wuchern anspruchslose Gräser und allerlei Pflanzen, die ich als Unkraut verunglimpfen muss, weil ich sie nicht kenne; auf der gegenüberliegenden Seite steht vernachlässigt und teilnahmslos ein Haus, das vielleicht mal ein Bahnhof war; unter dem überdachten Perron döst ein Wartehäuschen mit ein paar blinden Scheiben, die überdauert haben und an denen kleine, vergilbte Anschläge kleben, die Wände der Unterführung sind besprayt, darunter der Spruch I was here!, oben am Treppengeländer baumelt schräg ein verrosteter Stempelapparat. Irgendwann fährt ein Zug vorbei.

Um 10.44 Uhr, wenn der Zug eigentlich in Luino ankommen sollte, stehe ich noch immer da. Kein Mensch weit und breit. Habe ich den Fahrplan falsch gelesen? Oder hätte ich den vorbeifahrenden Zug aufhalten sollen, wie das Plakat an der hohen Mauer unterhalb der Bahnstation vermuten lässt. Dort heisst es nämlich: Fermata facoltativa. Utilizzare il tasto rosso della cassetta arancione sul marciapiede. Aber ich sehe weit und breit keinen orangefarbenen Kasten mit einer roten Taste. Unsicher geworden stehe ich schon auf der Treppe zur Unterführung und ändere in Gedanken mein Tagesprogramm, als der Zug einfährt. Es ist 10.48 Uhr.

Sieben Minuten später renne ich von der Stazione Centrale in Luino los und kämpfe mich, nach Lücken in der träge vor sich hinfliessenden Menschenmasse sperbernd, Leute auf die Seite stossend (was sonst weiss Gott nicht meine Art ist), seitlich hüpfend und Scusi!, Per favore!, Pardon! rufend durch das Gewühl des Mittwochmarkts, der mir als sehenswert empfohlen worden ist, der mich aber gerade nicht interessiert, und den ich deshalb in meinem Zeitplan nicht bedacht hatte.

Punkt 11.05 Uhr stoppe ich am Schalter der Schiffstation und huste, völlig ausser Atem und mit zitternden Knien, Cannobio, per favore! durch die Scheibe, der weibliche Schatten dahinter greift zum Lautsprecher und spricht eine weit herum hörbare, knappe Mitteilung an die Schiffscrew hinein, deren Wortlaut ich aber nicht verstehe, schiebt mir das Ticket zu und nennt den Preis, ich werfe die Note hin, angle das Ticket, lasse die Münzen liegen und renne zur Brücke, die schon eingezogen war und extra für mich wieder ausgefahren worden ist. In Cannobio löse ich vorsichtshalber die Rückfahrkarte schon bei der Ankunft.

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Vom anfahrenden Schiff aus schiebt sich Cannobio wie eine lange, farbige Häuserkulisse ins Bild. Ein hübscher Ort, auf das Delta des Cannobino gebaut, sehr touristisch, mit einer neu gestalteten, teilweise mit Kopfsteinpflaster geschmückten, eleganten und in ihrer Grosszügigkeit schon fast mondänen Seepromenade, die gesäumt ist von Restaurants, Gelaterien, Cafés, Bars und Souvenirläden. Dahinter, parallel dazu eine schmale Gasse, ebenfalls kopfsteingepflastert, aber nicht neu, die authentischere Kehrseite der Postkartenfassade sozusagen. Gepflasterte Quergässchen führen vom See weg den Hang hinauf zur Hauptstrasse, dahinter verzetteln sich die Häuser in die Talebene. Nach einer guten Stunde habe ich gesehen, was in dieser kurzen Zeit zu sehen ist. Noch weiter zu gehen, riskiere ich nicht, ich darf das Schiff auf keinen Fall verpassen. Im Lo Scalo gegenüber der Schiffländte leiste ich mir ein gediegenes Menü und vertreibe die Zeit bis zur Abfahrt mit Schreiben und Beobachten der Menschen. Selbstverständlich so unauffällig wie möglich. Man will ja nicht indiskret sein.

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Der Chef der Service, ein gutaussehender junger Mann mit Vollglatze, lässig, elegant, schwarzgekleidet, weist die Plätze mit dieser gewissen Noblesse zu, die nur den Italienern zusteht. Der Kellner dagegen bedient schweigend, zwischen seinen Augen eine steile Falte, der Mund ein Strich, die Mundwinkel nach unten gezogen. Die Gäste sprechen ausschliesslich Schweizerdeutsch. Ich sitze allein an einem Tisch und bekomme zwangsläufig einiges von dem mit, was sie sagen. So auch das Gespräch, aus dem hervorgeht, dass der Chef de Service eigentlich der Inhaber ist, dass das Lokal ab dem 2. November bis im Frühling geschlossen ist, und dass er und seine Frau im Winter ein anderes Geschäft betreiben, weil sie dann ja auch etwas verdienen müssen.

Schräg vis-à-vis sitzen zwei Ehepaare, die Frauen in meinem Alter, ihre Männer um einiges älter und schon etwas greisenhaft. Eine der Frauen beklagt sich in gellendem Zürcher Dialekt über irgend etwas und ich verstehe plötzlich den schlecht gelaunten Kellner.

Geradeaus vor mir ein Mann, vermutlich Ende 50, mit seiner Frau, die einen strengen und nicht besonders lebenslustigen Eindruck macht, beide aus der Ostschweiz, mit betagten Eltern, vermutlich seinen, die kaum was sagen und offensichtlich auch nicht mehr ganz alles mitbekommen, auch wenn er es ihnen noch so oft und noch so deutlich wiederholt. Alle gut gekleidet, ziemlich sicher wohlhabend. Jedenfalls schliesse ich das aus der bestimmten Art, wie der Mann spricht – meistens nur er und so laut, dass man ihn hört.

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Ich bin zurück aus Cannobio und sitze allein in einem der Korbsessel im Gewächshaus, den Laptop auf den Knien, über mir die Baumkronen, die sich über die Glaskuppel beugen, und deren Blätter ein bewegtes Schattenmuster auf den Boden malen, vor mir die Türe, deren Flügel ich einen Spalt offenlasse, damit etwas Luft hereinkommt. Die Sonne steht bereits weit unten, ich muss ihr ausweichen und den Sessel von Zeit zu Zeit in den wandernden Schatten nachrücken.

Nun also habe ich so ziemlich alle Nichtigkeiten des Tages aufgezählt. Aber das Leben besteht wohl zur Hauptsache aus Belanglosigkeiten. Verleihe ich einer Begebenheit Bedeutung, indem ich sie aufschreibe? Oder erlangt sie diese erst, wenn jemand das Geschriebene liest? Und verliert sie sie wieder, wenn sie im Urteil des Lesers als bedeutungslos eingestuft wird? Und bedeuten Gedanken wie diese bloss Eitelkeit und sind demnach auch bloss Nichtigkeiten?