Sonntag, 22. April 2012

Januskopf Blocher

Im heutigen TA Magazin ist ein Artikel von Daniel Binswanger über die Unzufriedenheit innerhalb der SVP über Blochers Unfähigkeit loszulassen. Wie immer ein gut recherchierter, emotionslos analysierender Bericht von hohem Informationswert mit leisen Untertönen, etwa die Bemerkung über die Anweisung Blochers an seine Kinder, die alten Firmencomputer zu schreddern, damit Geheimes geheim bleibe.
Gestern sagte ein guter Bekannter einmal mehr, dass Blocher wenigstens sage, was er denke. Ich bin immer wieder erstaunt über die politische Naivität vieler Menschen, denen man eigentlich mehr kritische Distanz zutrauen würde. Blocher hat nie einfach nur gesagt, was er denkt. Dazu ist er viel zu schlau. Er sagt, was er sagen will und verschweigt, was er verschweigen will. Die Basler Zeitung ist da nur eines von vielen Beispielen. Wie perfid sein Schweigen sein kann, zeigt die Art und Weise, wie er Bruno Zuppiger ins Messer laufen liess. Er wusste um dessen Machenschaften - sie standen ein Jahr zuvor in der Zeitung, aber er hat Zuppigers Kandidatur nicht verhindert, um ihn dann via Weltwoche ein für allemal mundtot zu machen. Dieses Beispiel zeigt, wie Blocher mit Menschen umgeht, die ihm nicht passen. Das wissen alle in der Partei, die er zu seinem persönlichen Machtapparat umgestaltet hat. Deshalb ist auch Widerspruch so selten. Man zahlt ihn teuer.
Entscheidend für die Handlungen Blochers ist seine Psyche. Sein Freund Roger Köppel von der Weltwoche, an der Blocher mit Sicherheit auch in irgend einer Weise beteiligt ist, hat geschrieben, Blocher fehle das Gen zur Demut. Das ist treffend. Ihm fehlt jedoch auch das Gen zur Einsicht, das Gen zur Bescheidenheit, das Gen zu kritischer Selbsthinterfragung und und und. Blocher ist ein Januskopf: Auf der einen Seite ist er eine Missionar, der glaubt, er müsse die Welt oder wenigstend die Schweiz auf den rechten Weg bringen. Welches dieser rechte Weg ist, ist für ihn sonnenklar: der Weg, den er persönlich für den richtigen hält. Davon ist er sogar überzeut und so kann er durchaus sagen, was er denkt. Schliesslich haben nur die Anderen unrecht. Auf der anderen Seite ist er ein Machtmensch, der skrupellos genug ist, alles seinen Zielen und Interessen unterzuordnen. So hat er sich sein Unternehmen unter den Nagel gerissen, so hat er sich seinen persönlichen Machtapparat, die Partei aufgebaut, und so behandelt er die Menschen, die er zu seinen Jüngern macht.
Blocher ist sicher ein interessante Figur mit einer ausserordentlichen Fähigkeit, die schwelende Unzufriedenheit im Volk aufzuspüren und für seine Zwecke einzusetzen. Aber seine Leistung ist geringer, als immer angenommen wird. Er besetzt seit Jahren zwei Themen, das ist die Verhinderung des EU-Beitritts und die Asylpolitik. Kurzfristig gibt ihm der Erfolg Recht. Langfristig wage ich dies zu bezweifeln.
Die Fortschritte in der Schweizer Politik erzielen die Anderen. Diejenigen, die in mühseliger Konsensarbeit nach Lösungen ringen. Doch das ist wesentlich weniger medienwirksam. Und es enspricht offenbar auch nicht dem Bedürfnis der Menschen, die die Verantwortung lieber jemandem überlassen, der das gerne für sie übernimmt.

Donnerstag, 12. April 2012

Denken verunsichert

Die Welt wird immer vernetzter, sie wird kleiner und damit komplexer, wir werden überschüttet von Informationen über immer noch neuere Erkenntnisse und Theorien, noch grössere Entwicklungen, noch bedeutendere Ereignisse, und wir sind laufend konfrontiert mit Problemen, die wir weder beeinflussen noch lösen können, mit denen wir nichts zu tun haben und die unser Leben doch beeinflussen. Die Versuchung ist gross, sich dem einfach nicht mehr auszusetzen, entweder indem wir uns entziehen, uns permanent beschäftigen, uns vom Leistungsdruck vereinnahmen lassen, uns nie der Stille aussetzen, uns von der omnipräsenten Unterhaltungsindustrie ablenken lassen oder durch einfache Erklärungen verführen lassen. Es gibt die Heilsverkünder überall, in der Politik, in der Religion, in abstrusen esoterischen Theorien, aber auch in der Wissenschaft, von der viele glauben, sie liefere die einzige verlässliche Antwort. 

Es gibt keine verlässliche Antwort. Jede Antwort ist nur so lange gültig, bis sie wieder hinterfragt wird. Das ist Denken. Fragen und hinterfragen. Denken schliesst alles ein, lässt alles offen, kommt nie an ein Ende, lässt keinen endgültigen Schluss zu. Denken ist wie das Universum, ohne Anfang und ohne Ende. Jeder Mensch hat sein eigenes gedankliche Universum, worin er sich zuweilen auch verlieren kann. Denken ist anstrengend, macht einen einsam. Denken verunsichert. Immer. Kein Wunder, das viele Menschen lieber glauben als denken.

Dienstag, 10. April 2012

London, April 2012

In London war ich zum ersten Mal vor über 50 Jahren (heute sind es 57 Jahre), mit meinen Eltern, da war ich noch nicht ganz 17 Jahre alt. Ich kann mich noch an eine düstere Stadt erinnern, so schwarz wie der Lappen, nachdem ich mich abends damit gewaschen hatte.

Von damals in Erinnerung geblieben sind mir noch die dreieckigen, pampigen Sandwiches, der Speakers Corner im Hyde Park, die riesigen Grabmale in der Westminster Abbey, eine Rötelzeichnung von Da Vinci, die im Eingang der Tate Britain hing, wo meine Mutter unbedingt hinwollte, und die schauerliche Folterkammer in Mme Tussauds Wachsfigurenkabinett, wohin mein Vater unbedingt wollte. Später, bei der Swissair, war London eine der angeflogenen Destinationen, doch übernachtet habe ich da nur selten, je nachdem, welche Rotation auf dem Einsatzplan stand, und wenn, verbrachte ich die knappe Zeit mit den Kollegen, meist bei Essen und Trinken. Nur manchmal erlaubte ich mir einen kleinen Alleingang. Das ist auch schon 40 Jahre her. Seither war ich nie mehr in London.

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Klar, die Tube ist noch dieselbe, Treppchen auf, Treppchen ab, plötzliche Windstösse, die einen aus seitlichen Fussgängertunnels unvorbereitet anfallen und für ständig gerötete Augen sorgen, volle Züge, meistens so crowded, dass sich zwangsläufig die Assoziation zur Sardinenbüchse einstellt und man sich mit der sprichwörtlichen Gelassenheit der Engländer wappnen muss, um nicht in Panik zu geraten.

Gelassenheit ist ohnehin eine unabdingbare Eigenschaft bei so vielen Menschen, rund 8 Millionen (heute bald 9 Millionen), Disziplin eine weitere. Vor den Aufzügen drängelt niemand, ausser vielleicht ein paar Touristen, ist der Lift voll, wartet man halt auf den nächsten. Stoisch. Dank dieser offenbar typisch englischen Haltung bleibt auch die Aggressivität aus, die in anderen Städten in weniger bedrängten Situationen wesentlich stärker spürbar ist. In Berlin hatte ich ein ungutes Gefühl, als ich einmal nachts mit der U-Bahn unterwegs war, obwohl ich es mir wahrscheinlich nur einbildete. In London nicht. Vielleicht lag das aber nur daran, dass ich mich ausschliesslich im Zentrum aufhielt, viel weiter als Bloomsbury, wo ich wohnte, bin ich nicht gekommen.

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Wenn ich damals, als ich noch geflogen bin, zum ersten Mal in eine Stadt kam, habe ich mich jeweils in einen Bus gesetzt und bin von Endstation zu Endstation gefahren. Es war die Zeit nach 68, ich wollte weder zu den Sehenswürdigkeiten noch in Museen pilgern, sondern wissen, wie die Menschen leben. Eine Stadt verändert sich und zeigt ihr wahres Gesicht, je nachdem in welche Richtung und je weiter man nach draussen fährt. Die Einkommensunterschiede werden deutlich, die Lebensbedingungen auch, man sieht die schöne oder die hässliche Umgebung, man sieht sie im Bus, die Menschen betrachtend, die ein- und aussteigen. In New York wusste ich immer, in welchem Viertel ich mich befand, die Separation war offensichtlich, ob jüdisch, chinesisch, schwarz oder weiss.

Als ich die ersten paar Male in London war, habe ich das auch gemacht. Ich weiss nicht mehr, wann wir jeweils landeten und wieder abflogen. Aber ich sehe noch das Hotel vor mir, wo wir übernachteten. Immer nur eine Nacht. Und ich sehe Busstationen vor mir, irgendwo draussen, wo ich allein wartete. Heute hat sich viel geändert, aber die sozialen Unterschiede sind noch da, die Einkommensunterschiede auch, die sind sogar noch weiter auseinandergegangen. Aber ich muss es nicht mehr mit eigenen Augen sehen, ich weiss es auch so.

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Höflichkeit ist eine weitere sprichwörtliche Eigenschaft, die den Engländern nachgesagt wird. Ich kann sie bestätigen. An der U-Bahnstation war sofort jemand zur Stelle, als ich nicht genau wusste, wie viele Zonen ich lösen muss, überhaupt, wo immer ich etwas wissen wollte, habe ich geduldig Auskunft erhalten, wenn jemand zu schnell gesprochen hat und ich nicht genau verstanden hatte, hat man mir alles nochmals ausgiebig und in verlangsamtem Tempo erklärt, und die junge Frau am Ticketschalter der Oper warnte mich eindringlich, der Platz für die Beine sei zu eng, und als ich sagte, ich würde das (günstige) Ticket trotzdem nehmen, sagte sie noch einmal ganz besorgt: But you will feel uncomfortable.

Der Buschauffeur, der mich zur Tate Modern fuhr, sagte mir, ich solle nur Platz nehmen, er werde mich rufen, wenn es so weit sei. Er erinnerte mich an die Episode, die meine Mutter jedes Mal erzählte, wenn die Rede auf London kam, als der Bus abfuhr, sie schon drin und mein Vater und ich noch draussen, und sie nicht einen Penny dabei hatte, weil mein Vater das Geld verwaltete, zu Hause bekam sie von ihm das abgezählte Haushaltgeld und im Ausland bezahlte sowieso er. Der Chauffeur winkte freundlich ab und liess sie mehrere Stationen gratis mitfahren bis zur U-Bahnstation, wo wir hinmussten und wo mein völlig aufgelöster Vater, der schon geglaubt hatte, er habe seine Frau für immer verloren, und ich sie wiederfanden, lächelnd, als ob nichts gewesen wäre. Sie war diejenige, die Englisch konnte, sie war diejenige, die zurechtkam allein, ohne sie wäre er verloren gewesen, nicht umgekehrt, wie er immer dachte.

Das damals noch sprichwörtlich schlechte Essen gehört definitiv der Vergangenheit an, die Stadt bietet so ziemlich alles, was diese Welt gastronomisch zu bieten hat. An der Marchmont Street, in deren nächster Nähe ich wohnte, reiht sich ein kleines Beizli ans andere, man hat die Qual der Wahl zwischen italienischer Pizza, indischem Tandoori, englischem Beef oder was auch immer das Herz begehrt.

Das Fork, ein sympathisches kleines Café, wo mein Tag begann, war rege besucht von Studenten, die zehn Prozent Rabatt erhielten für ihren morgendlichen, frisch zubereiteten Take away-Porridge, der klebrig vom Schöpflöffel in den Becher tropfte, für das Birchermüesli oder für das feine Joghurt nature mit etwas Crunchy und frischen Früchten.

Proppenvoll war es auch im Wong Kei an der Wardourstreet in Chinatown, einem Lokal, das mir Pius empfohlen hat, wo die Wong Tong, die Nudelsuppe, für bescheidene 4 Pfund zu kriegen ist. Laut Pius die beste, die es gibt, meine entsprechend hohen Erwartungen hat sie nicht erfüllt.

Beinahe unbezahlbar geworden ist bekanntlich das Wohnen in London, so gesehen hatte ich Glück, mein verhältnismässig günstiges Studio in den Cartwright Gardens war winzig, aber angenehm und sauber, und vor allem ideal gelegen. Mitten in Bloomsbury, ruhig, je rund 500 Meter von den U-Bahnstationen Kings Cross, Euston Square und Russel Square entfernt. In der nahen Umgebung gibt es alles für den täglichen Bedarf, von der kleinen Bäckerei mit frischen Baguettes bis zum 24 Stunden geöffneten Laden.

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Das Ziel meiner Reise war die David Hockney-Ausstellung in der Royal Academy. Ich wusste, der Andrang würde gross sein, auch, dass die Besucher nur in beschränkter Anzahl eingelassen würden, damit vor den Bildern kein Gedränge entstünde. Angesichts dieses voraussehbaren Vorteils waren die rund anderthalb Stunden trotz Kälte gut zu ertragen in der sich immer dichter schlängelnden Reihe, in der ich ganz im bildlichen Wortsinn Schlange stand und ausreichend Zeit hatte, den mitgebrachten Reiseführer zu studieren, was mich sonst immer etwas langweilt.

Die Bilder Hockneys waren von einer farblichen Intensität, wie ich sie selten erlebt habe. Hockney stilisiert die Natur so gekonnt, dass sie realistisch erscheint, obwohl die Baumstämme nicht einfach braun, sondern rot, blau oder orange sind. Ein wahres Fest für die Sinne. Auch perspektivisch. Man steht mitten in diesen grossartigen, weiten Landschaften und wundert sich, warum es einem erst jetzt auffällt, dass der schneebedeckte Boden auch violett und der Frühlingsacker knallrot sein kann. Mein Schwager fiel mir ein, der mich auf unserer Terrasse einmal gefragt hatte, was für eine Farbe meiner Meinung nach die Verbundsteine hätten. Grau, sagte ich und wunderte mich über die Frage. Schau genauer hin, sagte er, dann kannst du darin ganz viele Farben entdecken. Er hatte Recht. Nicht nur, was das Grau der Verbundsteine betrifft. Man muss bewusst hinschauen, um die Dinge zu erkennen. Es war eines der Schlüsselerlebnisse meines Lebens.

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Eigentlich hätte ich vorgehabt, mindestens einen der schönen Parks zu geniessen und dann im Hydepark die Serpentine-Gallery zu besuchen, aber der strömende  Regen durchkreuzte meine Pläne, also trieb ich mich rum, vorbei an zahlreichen Baustellen, mit denen sich London für Olympia rüstet, unter anderem am Leicester Square, der vollkommen neu gestaltet wird.

Obwohl es noch immer wie aus Kübeln goss, setzte ich meinen Streifzug fort, ging planlos weiter, blieb ab und zu stehen vor einer Auslage oder hielt Ausschau nach einem Kino oder Theater, wo ich den Abend hätte verbringen können. Ganz spontan kaufte ich schliesslich ein Ticket für das Musical Les Misérables, mehr aus praktischen Gründen denn aus Interesse, das schon leicht schmuddelige Theater befand sich bloss ein paar Schritte vom Wong Kei entfernt, wo ich kurz vorher meine Nudelsuppe gegessen hatte.

Victor Hugos epochales Werk als eingängiges Musical. Aber vielleicht erreicht man die Menschen heute tatsächlich besser mit einem Film oder einem Musical. Die Leute lesen immer weniger, Literatur verliert an Bedeutung, sie wird ersetzt durch Bild und Ton. Mein hochbegabter Neffe liest kaum Bücher, viele meiner ehemaligen Berufskollegen lasen keine Bücher. Ich verstehe es nicht. Mir hat das Lesen meinen Horizont erweitert, es hat meinen Blick geöffnet, mich vieles gelehrt. Ein Leben lang. Ohne Bücher wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.

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London gehört nicht zu den Städten, in denen ich leben möchte. Aber aus der schwarzen, Furcht einflössenden Stadt meiner Kindheit ist eine lebendige, multikulturelle Metropole mit einem schier endlosen Angebot geworden. Beeindruckend, aber auch anstrengend. Der Lärmpegel ist permanent hoch, man ist dauernd in der Menschenmenge, alles ist im Fluss, es gibt keinen Stillstand, keine Pausen. So war ich denn ganz froh, wieder im bedächtigen, vergleichsweise fast menschenleeren Zürich anzukommen, auch wenn mir die Schweizer Biederkeit dann und wann mindestens so auf die Nerven geht wie in London die allzu «crowded» Tube.

 

Prag, Mai 2009

Um zu wissen wo ich bin, müsste ich die Strasse überqueren, mir die Namen auf den Tafeln mühsam Buchstabe um Buchstabe abschreiben und danach versuchen, sie auf der Karte zu lokalisieren, die ich ebenfalls nicht lesen kann. Ich will ins Kampa-Museum, auf meinem Weg dahin zieht es mich in ein kleines Café, lauschig gelegen neben einer kleinen Brücke über den Seitenarm der Moldau, wo ich mir die Orientierungspunkte auf der Karte übersetzen lasse. Es ist einfach hier drin, nüchtern und doch gemütlich, wenige Holztische und Wienerstühle, ganz nach meinem Geschmack.

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Wir, das heisst, Robert und sein Team der Internationalen Festtage Bohuslav Martinů aus Basel, sind als Gäste der Stadt Prag zu den Feierlichkeiten eingeladen, die im Rahmen des 50. Todestages des tschechischen Komponisten stattfinden. Heute Morgen waren wir in der Ausstellung über Martinů im tschechischen Museum der Musik. Eine Dokumentation entlang der Stationen von Martinůs Leben, ergänzt mit Fotos, Text- und Tonzitaten. Die Ausstellung und die kleine Würdigung haben mir gefallen. Fast noch beeindruckter war ich allerdings vom Atrium des Museums mit seinen elegant geschwungenen Geländern, den Lichteffekten und dem Treppenbau im Hintergrund, der mich ein bisschen an Eschers Illusionen erinnert.

 

Robert verbindet nicht nur seine Herkunft mit dem tschechischen Komponisten, sondern auch die Liebe zu dessen Musik. Als Initiant der Martinů-Festtage hat er mitgeholfen, den Komponisten aus dem Vergessen zu holen und von international bekannten Interpreten spielen zu lassen. Die Inspiration dazu hatte er während eines Besuchs am Grab des Komponisten, der die letzten Jahre seines Lebens bei Paul Sacher in Basel verbracht hatte und dort begraben lag, bis seine Überreste 1979 nach Tschechien überführt wurden.

 

Tschechien: Der Name erinnert mich unweigerlich an die Episode anfangs der Neunzigerjahre, die sich in mein Gedächtnis eingegraben hat, weil sie so peinlich war, als der damalige tschechische Premierminister Václav Klaus, nach der Auflösung der Tschechoslowakischen Republik in die beiden souveränen Staaten Tschechien und Slowakei, in der Schweiz weilte und – warum auch immer, das weiss ich nicht mehr – im Hotel Mövenpick in Regensdorf eine Pressekonferenz abhielt. Ich war nur dort, weil Regensdorf im Einzugsgebiet unserer Zeitung lag, die Anwesenheit eines so hohen Tiers durfte natürlich nicht fehlen im Blatt, wenn auch bloss aus lokaler Sicht. Im Zusammenhang mit einer Frage rutschte mir das Wort Tschechoslowakei heraus, worauf Klaus mich wütend abkanzelte: «Nehmen Sie diesen Namen niiieee mehr in den Mund!!»

 

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Nachmittags, im Café Slavia

Im Kampa-Museum habe ich mich nur kurz aufgehalten, danach hatte ich Lust, der Moldau entlang zu bummeln und einfach nur das Gefühl zu geniessen, wieder hier zu sein.

In Prag bin ich zum dritten Mal. Unvergesslich gespeichert sind die Bilder, als ich 1970 zum ersten Mal mit meiner Freundin Irene hier war, nachdem die Truppen des Warschauer Paktes unter sowjetischer Führung den Prager Frühling zerschlagen und Prag und seine Bewohner in einer Art Schwermut zurückgelassen haben. Es war meistens kalt und düster, es muss Januar oder Februar gewesen sein, sicher irgendwann im Winter. Wir wohnten bei einem Ehepaar, dessen Tochter noch vor dem Einmarsch in die Schweiz gereist und danach nicht mehr zurückgekehrt war. Irene hatte sie in Bern kennengelernt, sie vermittelte uns die Adresse ihrer Eltern und gab uns Medikamente für sie mit. Wir übernachteten im Schlafzimmer der kleinen Zweizimmerwohnung, während die Eltern im Wohnzimmer schliefen, unser heftiger Protest hielt sie nicht davon ab, darauf zu bestehen. Sie verwöhnten uns, stellten uns das Frühstück auf den Tisch, einmal luden sie uns am Abend zu Zwetschgenknödel ein. Sie sprachen Tschechisch und Deutsch, erzählten uns, wie sie alles miterlebt haben, wie Aufbruch und Widerstand in Angst umgekippt sind, und dass man heute noch mehr aufpassen müsse, wo man was sage. Wir unterhielten uns über den Reformkurs unter Dubček und Svoboda, deren Namen wir zu Hause beim Demonstrieren skandiert hatten und über die wir mit den ideologischen Hardlinern unter uns gestritten haben.

Die Stadt war fast leer, wir hatten sie sozusagen ganz für uns. Stundenlang sind wir gelaufen, haben alles abgeklappert, was wir uns vorgenommen hatten, den Hradschin mit der Burg und dem Veitsdom, die Kleine Seite, das Strahov-Kloster, den Altstätter Ring, den Wenzelsplatz, den jüdischen Friedhof. Das meiste sahen wir nur von aussen. Viele der Fassaden waren zugebrettert, auch das Rathaus und die Uhr. Vor dem Einmarsch hatte man damit begonnen, die Stadt zu sanieren, jetzt, über ein Jahr danach, stand noch immer alles still.

Abends hockten wir in der Beiz, im U Tří Pštrosů, dessen Name uns zum Lachen brachte und uns an Emils Kreuzworträtsel-Nummer erinnerte, wir ergötzten uns daran, einander Prgl! und Octrn! zuzurufen. Im Lokal mit den mittelalterlichen Kreuzbögen, das ich später nicht mehr gefunden habe, diskutierten wir mit Studenten, die literweise Bier tranken und immer aufpassten, dass niemand zuhört, wenn sie uns vom Prager Frühling erzählten. Manchmal zeigten sie auf jemanden und sagten, das könnte ein Spitzel sein. Vielleicht hatten sie Recht oder es war die Paranoia nach den traumatischen Ereignissen, vielleicht wollten sie uns aber auch nur ein bisschen auf die Rolle schieben.

Die Tschechin, eine Architektin, hatte Irene empfohlen, ein altes Heilbad in Mähren zu besuchen, dessen Name ich längst vergessen habe. Wir fragten im Tourismusbüro danach, die Dame riet uns davon ab, da sei gar nichts zu sehen, sie empfehle uns dagegen das Schloss Frauenberg in Südböhmen – das einmal der Familie Schwarzenberg gehört hat und jetzt Staatseigentum ist, wie wir dann herausgefunden haben, deshalb wohl die Empfehlung. Als wir unschlüssig waren, buchte sie uns kurzerhand zwei Plätze, und noch bevor wir uns richtig versahen, sassen wir im Bus, der die wenigen Touristen dorthin brachte.

Das Schloss mit dem zungenbrecherischen Namen Hluboká nad Vltavou war eine neugotisch-neoromantisch verkitschte Scheusslichkeit mit – natürlich – einigen kulturhistorisch wertvollen Einzelheiten, berühmt ist die Kassettendecke, die uns fast erschlagen hat, und im Jagdzimmer voller Geweihe – an den Wänden, als Lampen von der Decke, als Stuhl- und Tischbeine – kriegten wir einen Lachkrampf. Die Reise hat sich dennoch gelohnt, an diesem Tag schien die Sonne und die Landschaft Böhmens ist wirklich sehr schön.

Am nächsten Tag fuhren wir entgegen dem Ratschlag der Dame im Tourismusbüro doch noch ins alte Heilbad in Mähren, unsere Gastgeber wussten, wie man dorthin gelangt. Es war eine nostalgische Reise in die Vergangenheit, im stotternden Zug, gezogen von einer schwarzen Rauch ausstossenden Dampflokomotive, unterwegs hielten wir in einem Dorf oder Städtchen, jedenfalls mit einem grossen, quadratischen Platz, er war leer, es hingen Fahnen der Partei mit Hammer und Sichel an den Häusern und wir fragten uns, ob die hier wohl noch immer oder schon wieder hingen.

Der Schaffner sagte uns, wann wir aussteigen müssten, an einer verlassenen Bahnstation, einer alten Hütte mitten im hohen Gras. Ein schmaler Trampelpfad führte über eine Böschung in den Wald und dort auf einen etwas breiteren Weg. Wir waren schon unsicher, ob wir überhaupt am richtigen Ort gelandet waren und ob wir hier jemals wieder hinausfinden würden, als plötzlich barocke Figuren auftauchten, die mal den Weg gesäumt hatten, jetzt waren sie versteckt, ganz mit Moos überwachsen, man musste nach ihnen Ausschau halten, um sie zu sehen. Sie waren verzaubernd schön, früher beachtet, jetzt nur noch einsam und verlassen, sie taten uns fast ein bisschen leid.

Zum Tor des ehemaligen Heilbads führte der Weg aus dem Wald hinaus über ein stoppliges Feld, ich erinnere mich nur noch undeutlich an einen grossen Gebäudekomplex mit einer Mauer darum, durch deren Tor wir hineingingen, der Boden im Hof hinter der Mauer war grasüberwachen, einen Brunnen sehe ich noch und einen kleinen Kräutergarten mit einer Frau, die dort etwas hackte oder pflückte. Wir wollten sie fragen, was aus dem Heilbad geworden ist, an das hier nichts mehr erinnerte, aber sie verstand nur Tschechisch und schüttelte den Kopf.

Die Frau im Tourismusbüro hatte Recht, wenn sie sagte, dass dort nichts mehr sei, andererseits hat uns diese Reise in die Vergangenheit sehr viel tiefer berührt als die Zurschaustellung der Reichtümer im ehemaligen Schloss der Schwarzenbergs und deren fragwürdigem Geschmack. Vielleicht auch deshalb, weil es ein Abenteuer war, das uns ein bisschen ängstigte, als wir eine kleine Ewigkeit auf einen Zug warteten und nicht wussten, ob überhaupt jemals wieder einer anhalten würde.

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Das zweite Mal in Prag war ich mit meinem Mann Res, noch vor der Wende. Hier im Slavia, nicht im Café, sondern im dazu gehörenden noblen Restaurant, haben wir einmal gegessen, der Concierge im Hotel hatte uns die Adresse empfohlen und gesagt, es sei das beste Restaurant in Prag, doch das Essen war für unsere doch ziemlich verwöhnten Gaumen höchstens mittelmässig, was wir dem sozialistischen Osten zuschrieben.

Die Stadt, die ich mit Irene kennengelernt hatte, war beim zweiten Besuch nicht mehr wiederzuerkennen, richtig geschockt war ich auf der Karlsbrücke, auf der Irene und ich noch Freudensprünge gemacht hatten, so schön war es da, wir beide ganz allein, jetzt mussten Res und ich uns im Menschenstrom millimeterweise vorwärtstreiben lassen, an den Händlern vorbei, die ihre Billigware anboten, Entkommen unmöglich. Ich war enttäuscht. Die zweite Invasion, die der Touristen, hatte die geheimnisvolle Stadt mit der unvergleichlichen Silhouette in eine Kulisse verwandelt, das wahre Leben fand anderswo statt. In einem Café, das wir etwas frustriert aufsuchten, weil im Museum, wo wir hinwollten, schon sehr früh zu viele Menschen Schlange standen, bot uns ein Taxifahrer eine Stadtführung an, zu einem vorher ausgehandelten Preis. Es war ein guter Deal, der Taxifahrer war ein Student, der viel wusste, über die Stadt, ihre Geschichte, ihre Kultur, er zeigte uns das Wichtigste, brachte uns aber auch an unbekanntere Orte. Ich kann mich noch an den Augenblick erinnern, hoch über der Stadt, als wir vorne an der Mauer standen und auf die Moldau blickten und ich wieder die Musik im Ohr hatte, die ich nie mehr vergessen habe, seit ich vor vielen Jahren Ferenc Fricsay einmal im Fernsehen gesehen hatte, wie er Smetanas Moldau vorstellte und dabei das Publikum aufforderte genau hinzuhören, was die Musik erzählt, wie das Wasser aus der Quelle perlt, wie aus dem feinen Rinnsal ein dahinziehender Fluss wird, vorbei an Landschaften, Hochzeiten und Unwettern, bis er schliesslich als breiter Strom im Meer verschwindet.

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Nach unserer Ankunft gestern Mittag wurden wir in einem Kleinbus abgeholt und zum Hotel an einem Seitengässchen in der Nähe des Altstätterrings gebracht. Unterwegs sind mir die vielen Baustellen aufgefallen, Prag ist wieder mal im Aufbruch, diesmal sind es keine politischen, sondern wirtschaftliche Ziele. Ein Rundgang mit Robert als Reiseleiter zeigte eine pulsierende Stadt, schön, einzigartig, und doch hat sie für mich ihre geheimnisvoll verzaubernde Atmosphäre des ersten Mals endgültig verloren. Wie die erste Liebe, die man wiedersieht und merkt, dass die Erinnerung nicht mehr der Realität entspricht.

Die Vertreterin der Stadt erklärte uns das Programm, tagsüber sind wir frei, bis auf den heutigen Morgen im Museum, abends jeweils eingeladen, gestern in der Laterna Magika, natürlich auf den besten Plätzen. Ich hatte etwas ganz Anderes erwartet, kleiner, poetischer, trotzdem war es eine interessante Erfahrung, mit überraschenden Effekten und einer perfekten Choreografie

3. Tag, nachmittags, im Café Louvre

Das Jugendstil-Café im Zuckerbäckerstil, in den Farben écru und altrosa, mit grossen Bogenfenstern auf die Strasse und Spiegeln in den Bogennischen der gegenüberliegenden Wand, gefällt mir, hier fühle ich mich wohl. Es ist früher Nachmittag und nicht voll besetzt, man hört praktisch nur Tschechisch, ein voll behangener, alter Zeitungsständer erinnert an die traditionelle Kaffeehauskultur, wie sie auch in Wien anzutreffen ist, selbst die Kuchen in der Auslage sind zum Teil dieselben, kulinarisch die gefährlichsten Verführer hier in Prag.

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Nach dem Slavia schlenderte ich zum Pulverturm, wo ich mit den andern verabredet war, und von wo uns Robert ins Kavarna Obecni dum führte, mit seinen riesigen Leuchtern, den Marmorwänden und dem Messingdekor das wohl eindrücklichste Jugendstil-Kaffeehaus Prags, weder in Wien noch in Paris gibt es etwas Vergleichbares, anderswo sowieso nicht. Auf dem Rückweg ins Hotel zog es mich in einen kleinen Laden mit ganz zauberhaften Marionettenfiguren. Kleists Erzählung über das Marionettentheater fiel mir ein, sie gehörte zur Pflichtlektüre in der Buchhändlerschule.

Abends waren wir ins Nationaltheater eingeladen. Die Gebrüder Bubeníček tanzten, wovon der eine offenbar zu den weltbesten Ballett-Tänzern gehört, wie Robert wusste. Bisher hatte ich mich nie besonders für Ballett interessiert, in meiner Vorstellung verband ich es mit Tütüs und Spitzentanz, aber die Darbietung der Bubeníčeks hat mich eines Besseren belehrt und mich dermassen begeistert, dass ich mir vornahm, im Opernhaus in Zürich unbedingt auch mal eine Aufführung zu besuchen. (Seither war ich schon mehrere Male in Ballettaufführungen und bin voller Hochachtung für die Tänzerinnen und Tänzer. Das moderne Ballett ist hochspannend und übertrifft jede andere körperliche Höchstleistung, mit dem Unterschied, dass Tanz schlecht bezahlt ist, während für andere, im Vergleich wesentlich weniger spektakuläre sportliche Höchstleistungen Millionenbeträge bezahlt werden.)

Den Schlummertrunk genehmigten wir uns ohne offizielle Begleitung im tiefen Keller der Bierhalle U Vejvodu. Man muss sie gesehen haben, diese Bierhalle, sie ist riesig, lärmig, ein Unikat. Es wurde ein feuchtfröhlicher Abend, sogar ich als erklärte Nichtbiertrinkerin liess mich zum Pils überreden.

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Der heutige Tag begann mit einer Besichtigung des jüdischen Viertels. Ich bin mit den anderen mitgegangen, weil ich mich nicht die ganze Zeit absondern kann, es wäre unhöflich. Im original erhaltenen Café, worin Kafka heute noch omnipräsent ist mit Bildern und Zitaten, sassen wir als einzige Gäste, ein seltsamer Ort, düster und etwas abweisend.

Die schlichte Atmosphäre in der Altneu-Synagoge beeindruckte mich, vielleicht weil ich mich mit dem jüdischen Volk verbunden fühle seit meiner Kindheit, wenn meine Mutter von ihrer jüdischen Freundin und deren Familie erzählte, im Geschäft des Vaters konnte sie später ihre KV-Lehre absolvieren. Es waren keine orthodoxen Juden, aber manche Rituale wurden gepflegt, etwa das Brot brechen am Tisch, was meine Mutter immer sehr beeindruckt und wovon sie immer mit grosser Achtung gesprochen hat. So habe ich mich schon früh mit dem Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Ich konnte nie fassen – und kann es bis heute nicht –, was ihnen angetan wurde. Die Vorstellung, dass Menschen andere Menschen zusammentreiben und industriell vergasen, ist für mich die allerschlimmste der vielen Grausamkeiten, zu denen die Menschen offenbar fähig sind. Res war ebenfalls an zeitgenössischer Geschichte interessiert und sammelte alle Dokumentarfilme, die es über den Zweiten Weltkrieg gab. Ich weiss noch, wie enttäuscht ich war von «Schindler’s List», weil der Film auf mich eher beschönigend wirkte und nicht annähernd das Grauen zu zeigen vermochte, das ich in den schwarz-weissen Dokumentarfilmen gesehen hatte.

Extrem hoch sind die Eintrittspreise, was eine Kollegin zu der Bemerkung veranlasste, «c'est juif!». Ihre Bemerkung ärgerte mich. Gerne hätte ich sie daran erinnert, welche Folgen solch unbedachte Äusserungen und gedankenlose Pauschalisierungen haben können, überhaupt, was undifferenzierte und unpräzise Sprache anrichten kann, wenn sie auf Dummheit und Unwissenheit trifft. Aber ich wollte keinen Streit. Statt womöglich noch die Stimmung zu verderben, weil ich meinen Mund nicht halten kann, verabschiedete ich mich und ging wieder meinen eigenen Weg.

Am Wenzelsplatz traf ich auf das alltägliche, geschäftige Prag. Das tat gut nach so viel Museumsatmosphäre inklusiv Touristenhorden im engen, ältesten Teil der Stadt. Ich mochte es, mich ganz normal zu bewegen, am Bancomaten Geld zu besorgen, im Haushalt- und Lebensmittelladen meinen Apfel zu kaufen.

In diesem Moment sehe ich Robert und die anderen an einem Tisch weiter vorne, mit dabei seine Tante, die in Prag lebt. Sie hatten offenbar die gleiche Idee mit dem Louvre. Ich werde mich kurz zu ihnen gesellen, seine Tante begrüssen, die ich schon an Konzerten getroffen habe, und dann weiter gehen. Abends sind wir von der Stadt zum Essen eingeladen und anschliessend werden wir ein Marionettentheater besuchen, nicht mehr auf Einladung, sondern auf eigene Kosten, wir entschieden uns dafür, obwohl Robert abgeraten hat.

Wieder zu Hause, ein paar Monate später

Das Marionettentheater hätten wir uns sparen können. Wir waren nicht im Marionetten-Nationaltheater, wo die Vorstellung womöglich besser gewesen wäre, sondern in einem kleinen, eher etwas schmuddeligen Theater, in das sich nur Touristen verirren. Nichts von Kleists beschriebener Anmut. Eine Enttäuschung. Aber Robert hatte uns ja gewarnt.

Unseren letzten Tag kann ich nur noch anhand der Fotos rekapitulieren. Eines der Bilder zeigt uns in der Bar des beeindruckend schönen Jugendstilhotels Pariz, das sich keines von uns leisten könnte – ausser Dorette natürlich. Auf einem anderen Bild stehen wir in der wartenden Schlange vor dem Veitsdom. Ein Bild zeigt Robert, wie er einer Gruppe von Musikern, die auf dem grossen Platz vor der Burg spielen, eine Münze in den Hut legt. Gegessen haben wir im Hof eines alten Gebäudes, von dem ich nicht mehr weiss, wo genau das war, auf dem Rückweg sind wir am Strahov-Kloster vorbeigekommen und ich habe meinen voraussichtlich letzten Blick auf die Stadt geworfen.

Montag, 9. April 2012

Paris, Juni 2009

Ich dachte immer, der neue Flughafen Kloten sei kompliziert, aber im Vergleich zu Charles de Gaulle ist er ein Musterbeispiel durchgeplanter Logistik. Zur Strafe, dass ich geflogen bin, nur weil es billiger war, dauerte es gestern fast drei Stunden, insgesamt länger, als mit dem Zug, bis ich in der Rue de l’Université war, im Studio eines Freundes, wo ich eine Woche lang gratis wohnen darf.

Unterwegs in die Stadt fielen mir die Häuserfassaden auf, ich hatte vergessen, wie schön Paris ist. Seine Eleganz bleibt unübertroffen. Die Kehrseite allerdings auch. Die Wohnsilos am Stadtrand sind in teils erbärmlichem Zustand und von einer solch penetranten Hässlichkeit, dass nicht nur die Stadt, sondern das ganze Land sich dafür schämen müsste. Man muss die Qualität eines Staates daran messen, wie er mit seiner mittellosen Bevölkerung umgeht.

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Ich sitze in der Brasserie Aux P.T.T. an der Rue Cler, die sich in der Nähe des Studios befindet. Die Rue Cler wird so etwas wie meine Heimat sein in den nächsten Tagen, ein Mekka für frische Lebensmittel, wo ein schöner Früchtestand sich an den nächsten noch schöneren Gemüsestand reiht, dazwischen die Bäckereien, Metzgereien, Traiteurs und die Bistros, die nicht fehlen dürfen, alle mit dem besonderen Flair der grossen Pariser Cafés, aber einfacher und von den Leuten des Quartiers frequentiert. Der Kellner bringt mir einen perfekten Cappuccino, der Charme der Brasserie inspiriert mich zum Schreiben.

Einen genauen Plan für die paar Tage habe ich nicht, aber ich weiss schon, was ich weglassen werde: die Sacré-Coeur und den Montmartre sowieso, aber auch die Défense, den Bois de Boulogne, den Jardin du Luxembourg, Montparnasse, die Place de la République, natürlich Versailles, den Louvre und noch so vieles mehr, was mein Mann Res und ich abgeklappert haben, als wir eine Woche zusammen hier waren.

Gegen Mittag, im Café de la Paix

Ins Café an der Place de l'Opéra führte mich die Nostalgie, weil mir das noble Lokal in Erinnerung geblieben ist, seit ich das erste Mal mit meinen Eltern hier war, das nächste Mal mit meiner Schulkollegin Steffi, da waren wir beide knapp 18 und durften nur nach Paris fahren, weil wir bei entfernten Verwandten der Schwester meiner Mutter übernachteten, bei Leuten, die ich nicht einmal kannte, in einem bescheidenen Häuschen in Versailles, das war die Bedingung, sonst hätten unsere Eltern uns niemals gehen lassen.

Das de la Paix hat sich nicht verändert, es ist noch genauso elegant, genauso teuer, und die Kellner sind noch genauso arrogant. Ein Déjà-vu, eines von vielen auf dem Weg hierher. Als ob die Zeit vergangen und gleichzeitig stillgestanden wäre.

Frische Baguettes: Sie duften aus den Bäckereien und erinnern mich an Langres, wo ich sie jeden Morgen holte, frisch aus dem Ofen der Bäckerei, die nur ein paar Schritte vom Haus entfernt lag. Die Schweizer backen wunderbare Brote. Aber die Franzosen sind die unübertroffenen Meister der Baguettes. Daran zu riechen, ein Stück abzubrechen und in die knusprige Rinde zu beissen… einfach himmlisch!

Pont Alexandre III: Mein Weg für die nächsten paar Tage, Kulisse für die Hochzeitspaare, die sich genau hier fotografieren lassen, weil der Eiffelturm den passenden Hintergrund dazu abgibt. Ort für unvergessliche Filmszenen.

Die Métro: Ich liebe sie. Über 100 Jahre alt und noch immer das schnellste Fortbewegungsmittel. Einfach und praktisch. Es macht Spass, sich in diesem riesigen Labyrinth so leicht zurechtzufinden. Die gekachelten Wände mit den Plakaten, dann und wann ein Musiker, der sich in der warmen Abluft der Bahntunnels einen kleinen Zustupf verdient. Jedes Mal, wenn ich einen sehe, denke ich an Robert, der immer Münzen dabeihatte, um sie diesen Kollegen zu geben, viele davon seien ausgezeichnete Musiker, bloss in einer prekären Situation, weshalb man sie oft falsch einschätze.

Mir fällt auf, wie sauber Paris heute ist, anders als früher. Überall stehen einfache Metallständer mit Ringen, über die Abfallsäcke gestülpt werden, die laufend geleert werden, ein einfaches, aber offensichtlich effizientes System. Jedenfalls sehe ich hier nicht so viel Dreck herumliegen wie in Zürich. Oft sind es die Jugendlichen, die alles einfach fallen und liegen lassen. Weil niemand mehr sie in die Pflicht nimmt? Weil für sie alles selbstverständlich geworden ist, auch dass jemand – heisst, der Staat – hinter ihnen aufräumt? Ich gebe zu, ich stosse ich mich daran. Bin ich im Alter spiessig geworden?

Früher Nachmittag, in der Notre-Dame

Ich gerate in eine Messe oder was auch immer das um diese Zeit sein könnte. Der Priester singt mehr schlecht als recht die Liturgie. Ohne seine schüttere Stimme im Vordergrund wäre die leise Begleitung sehr viel besser hörbar, eine schöne Sopranstimme, die durch die Kirche trägt. Die Touristen schlendern derweil herum, gehen mit erhobener Kamera an den Seitenaltären vorbei, knipsen und blitzen, was das Zeug hält, schwatzen hemmungslos. Ich fasse es nicht. Sie sind nicht einmal während einer Messe in der Lage, ihren Mund zu halten. Das stört selbst mich, die ich nicht gläubig bin und mir das Ritual fremd ist. Wenigstens etwas leiser dürften sie sein, aus Respekt vor den Menschen, die hier sitzen und vielleicht Trost suchen.

*

Nachmittag, Île St.-Louis

 

Hier war ich noch nie. Der Reiseführer beschreibt die Insel als architektonisches Gesamtbauwerk. Mag sein, mir bleibt es verborgen. Längs der Strasse, welche die kleine Insel schnurgerade in zwei Hälften teilt, haben viele der restaurierten Häuser glatte, gegipste Fassaden, aus denen Fenster ohne Fassungen und ohne Läden wie Löcher starren. Die Moderne über die Vergangenheit gepflastert. Zweckmässig. Geistlos. Ohne jeden Charme.

 

Auf meinem Streifzug entdecke ich eine Knabenschule, in Frankreich gibt es das noch, eine dieser écoles de garçons befindet sich offenbar hier auf der Insel, jedenfalls ist sie so angeschrieben, und auf dem Pausenhof sehe ich tatsächlich nur Buben spielen. Ich frage mich, ob diese physische Separation sich auch geistig auswirkt und auf das Verhalten dieser Knaben gegenüber dem anderen Geschlecht im späteren Leben einen Einfluss hat.

Ich habe Hunger und versuche es mit dem italienischen Restaurant, weil ich keine Lust auf eine der lieblosen französischen «plats» habe, mit denen die Touristen hier abgespeist werden. Das Lokal ist überklimatisiert, das Interieur deprimierend, und die Kellner sind genauso unhöflich und arrogant, aber das Carpaccio ist frisch geschnitten, der Parmesan frisch gehobelt, die Basilikumblätter frisch gepflückt, der Salat und die Salatsauce - französisch, nicht italienisch – leicht und bekömmlich, dazu leise Jazzmusik. Der Espresso schmeckt besser als der viel zu starke, bittere französische café noir.

Gegenüber auf dem Trottoir sitzt ein graumelierter Hund mit spitzen Ohren und kurzer, spitzer Schnauze und lässt es offensichtlich erlösend fliessen. Dabei schaut er so einfältig drein, dass ich laut lachen muss. Ob Menschen auch so doof aussehen, wenn sie es endlich loslassen können?

Das Dessert nehme ich im Berthillon, das ein bisschen aussieht wie eine Pralinenschachtel, wo es angeblich das beste Eis gibt, jedenfalls stehen sie im Laden nebenan Schlange. Es ist kühl, ich nehme lieber die Tartelette de pomme. Sie ist köstlich. Neben mir sitzen vier sympathische, blutjunge Japanerinnen mit ihren flachen, breiten Gesichtchen und schwatzen tapfer Französisch zusammen. Sicher sind sie hier für einen Sprachaufenthalt. Ich frage sie auf Englisch, sie nicken kichernd und halten verschämt die Hand vor den Mund.

In einem Hotel am Quai wird jemand auf einer Bahre aus dem 6. Stock geholt. 3 Feuerwehrwagen mit 6 Feuerwehrmännern, 1 Kran, 2 Polizeiautos, 2 Motorräder, 2 Sanitätswagen mit 4 Sanitätern, die Polizisten habe ich nicht gezählt. Als die Bahre im Krankenwagen verschwindet, fährt dieser nicht gleich ab. Ist die Person schon tot? Ich höre, wie sie von «victime» sprechen. Bin ich gerade an einem Verbrechen vorbeigekommen?

Donnerstagmorgen, in der Brasserie Aux P.T.T., Rue Cler

Auf meinem gestrigen Nachhauseweg von der Île St.-Louis über die Île de la Cité zur Métrostation Châtelet, machte ich einen kleinen Abstecher zur Sainte-Chapelle und kaufte dort ganz spontan eine Karte für ein Klavierrezital noch am selben Abend.

Die Sainte-Chapelle, dieses Wunderwerk abends zu erleben, wenn die Kerzen im Widerschein der farbigen Fensterscheiben eine märchenhaft verzauberte Stimmung erzeugen, das war fast schon überirdisch schön. Ganz im Gegensatz zu der in grossen Worten angekündigten Pianistin, die Bach, Liszt, Schumann und Chopin spielte, als ob sie alle Beethoven hiessen, dabei ihren Fuss nicht vom Pedal kriegte und die Musik zu Brei vermanschte. Dazu die schlechte Akustik. Ich habe ziemlich gelitten. Am Schluss war ich die einzige, die nicht geklatscht hat. Nicht einmal aus Höflichkeit.

Am Nachmittag, auf einer Bank an der Place des Vosges

Es zieht mich immer wieder hierher zurück. Jedes Mal träume ich davon, wie es wäre, hier zu leben, schon als Res und ich im Pavillon de la Reine logierten, das Fünfsternehotel haben wir uns geleistet, weil es an diesem Platz liegt, obwohl die Preise weit über unserem Budget lagen. Unser Zimmer war vermutlich das billigste, das sie haben, es war eng, das Fenster schmal, die Aussicht auf den Hof bestand aus der gegenüberliegenden grauen Mauer. Aber egal, wir waren mitten in der Stadt, am schönsten Platz von Paris. Im Café Bourgeois assen wir unser Frühstück, café au lait, brioches und croissants, nicht weit vom Ambroisie, eines der damals angesagtesten Gourmet-Lokale. Vielleicht ist es das immer noch. Res wollte unbedingt einmal dort essen, er war ein begnadeter Hobbykoch, der zu Hause die Gerichte ohne Rezept nachkochte, manchmal besser als das Original. Aber wir hätten mindestens ein halbes Jahr vorreservieren müssen, als Trost verriet uns der Hotelportier, uns Schweizer hätte man eingelassen, für Amerikaner dagegen sei das Lokal grundsätzlich immer ausgebucht, weil diese Barbaren Coca Cola statt Wein zum Fleischgang bestellten, die Todsünde aller Feinschmecker.

So schön und elegant Paris ist, so abweisend sind seine Bewohner. Als ob die Anziehungskraft der Stadt ihnen gleichzeitig den Reflex verliehe, sich den Mob, der da täglich einfällt, vom Leibe zu halten. Ich kann sie sogar verstehen.  Und ich kann verstehen, wenn jemand die Pariserinnen und Pariser nicht mag.

 

*

 

Musée d’Art moderne: Die Sammlung hatte ich mir interessanter vorgestellt, viel habe ich nicht gesehen, was mir gefallen hätte, auch wenn ich natürlich weiss, dass es in der Kunst um etwas anderes geht, als ums Gefallen. Ist alles neu Erschaffene Kunst? Ist Kunst überschätzt, kann jeder Kunst, wie Marcel Duchamps sagt? Wenn er Recht hätte, müsste das auch für die Literatur zutreffen? Oder für die Musik? Es fällt mir schwer, die Aussage in ihrer ganzen Konsequenz nachzuvollziehen.

 

Eigentlich hatte ich noch vorgehabt, einen Blick ins nahe Musée de la Mode im Palais Galliera zu werfen, aber es war geschlossen. Auf meinem Weg zum Trocadéro ass ich eine Kleinigkeit und wollte dann zu Fuss zum Eiffelturm und von dort nach Hause, doch dann stieg ich spontan in die Métro und fuhr zurück hierher, auf eine Bank an meinen Lieblingsplatz in Paris, wo ich mich mehr zu Hause fühle als im engen Studio von Dayadi.

Freitagmittag, im La Brise Miche, beim Centre Pompidou

Der Brunnen von Jean Tinguely und Nikki de St. Phalle lockt viele Kinder an, die hier spielen, ein schönes Bild, irgendwie passend, farbig und verspielt ist auch der Brunnen. Ich sitze im Schatten der Bäume, zuvorderst auf der Terrasse des Brise Miche, und schaue zu, mit dem unregelmässigen Geplätscher der Springbrunnen und dem Stimmengewirr um mich herum.

In Paris gibt es einige kaum zu überbietende architektonische Scheusslichkeiten, das Centre Pompidou gehörte für mich bisher dazu. Nun muss ich mein Vorurteil revidieren, einmal drin, eröffneten sich mir zum Teil atemberaubende Ausblicke. Atemberaubend, im wahrsten Sinne des Wortes, ist auch die permanente Ausstellung, es verschlägt einem den Atem ob so viel versammelter Kunst an einem Ort. Ich war schlicht überfordert. Jedes Stockwerk könnte sein eigenes kleines Museum füllen.

Wieder waren es die Pioniere des 20. Jahrhunderts, die mich am meisten faszinierten, ganz besonders Magritte, schon immer einer meiner Favoriten, aber auch ein paar Frauen, die mir weniger bekannt sind. (Warum kennt man die Männer besser als die Frauen? Weil es mehr sind, oder weil man die vergessenen Frauen erst seit wenigen Jahren ans Licht holt?) Einmal mehr stellt sich mir die Frage, was wahre Kunst ausmacht. Ich vermute, das wichtigste Kriterium - neben der vorausgesetzten Könnerschaft – ist die authentische Unverkennbarkeit.

Samstagmorgen, in der Brasserie Aux P.T.T., Rue Cler

Sie kennen mich hier schon. Der Kellner bringt mir meinen Cappucino und mein Croissant an den Tisch, ohne vorher zu fragen. Fast wie zu Hause im Toto.

Gestern bin ich noch eine Weile in Châtelet-Les Halles herumgelaufen, es ist interessant, was dort entstanden ist, aber mir waren die alten Markthallen lieber, die ich damals mit Steffi noch erlebt habe. Nostalgische Erinnerung an unwiederbringlich Vergangenes. Zum Glück gibt es sie anderswo noch, diese unglaublich schönen Markthallen mit ihrem ganz besonderen Flair, die so typisch sind für Frankreich.

Samstagabend, im Café Flore

Meinen Schlummertrunk genehmige ich mir im Flore. Da wollte ich schon immer mal rein. Als Steffi und ich hier waren, sassen wir draussen an einem der Tischchen, die damals noch auf dem Trottoir standen. Jetzt ist es drinnen leer, fast ein bisschen trist, nur die Fotos von Berühmtheiten erinnern an die Epoche, von der das Flore noch heute zehrt. Aber die Zeit jetzt ist eine andere. Vielleicht bin ich auch nur müde. Ich sitze vor meinem Glas Wein und fasse den Tag zusammen:

Andy Warhol im Grand Palais: Ich war früh da und bin gut durchgekommen, aber habe mich nicht allzu lange in der Ausstellung aufgehalten. Es waren hauptsächlich Bilder, die alle Welt kennt. Bei den Porträts habe ich an meinen Schwager Bendicht gedacht, der nie so berühmt geworden ist wie Warhol, obwohl er die gleiche Idee hatte mit den prominenten Persönlichkeiten, noch vor Warhol, nur dass er diese nicht persönlich gekannt, sondern ihr Abbild anhand eines Fotos geschaffen hat. Das Besondere an Bendichts Bildern war aber nicht das Porträt selber, sondern die aufwändige Netztechnik. Wie genau er sie machte, weiss ich nicht, aber die Porträts sahen von weitem ähnlich aus, wie eine Radierung. Wenn man sich davor bewegte, bewegte sich auch das Bild leicht mit. Eines dieser Netzbilder, die Jacky Kennedy, fand ich schlicht genial. Wo sie jetzt hängt, weiss ich leider nicht.

Champs-Élysées: Das kleine Plätzchen erinnert mich an den Film, den ich mindestens viermal gesehen habe, mit Audrey Hepburn und Cary Grant, an die Szene mit der Briefmarke, die ein Vermögen wert ist, als der Philatelist sie zurückgibt und sagt, es sei schön gewesen, sie einen Moment in der Hand zu halten. Die Pracht-Avenue zum Triumphbogen gehört zum Stolz der Franzosen, mich langweilt sie eher. Die Menschen sind interessanter als die Geschäfte, gerne würde ich sie fotografieren, aber ich halte mich nicht dafür (ausser das Hochzeitspärchen, das nichts dagegen hat, als ich sie frage).

Die «Stadt der Liebe»: Sie hat ihren Nimbus behalten, Paris, mon amour, die französischen Männer und ihr sprichwörtlicher, manchmal nur nachgesagter Charme. Paare aus aller Welt reisen an, um hier zu heiraten und sich vor der berühmten Kulisse ablichten zu lassen. Romantische Träume sind die schönsten, so schön wie Seifenblasen.

Quartier Latin: Die Gemüsequiche, in der Mikrowelle aufgewärmt, war gerade noch geniessbar, der Preis viel zu hoch, aber ich musste unbedingt etwas essen vor dem Konzert in der Église St-Julien-le-Pauvre, für das ich unterwegs eine Karte gekauft hatte. Im Lokal, in das ich zuerst wollte, brachte mich der Kellner an einen Tisch ganz zuhinterst zwischen Küche und Toilette, obwohl es vorne einen freien Platz gab. Das ist mir nun schon das zweite Mal passiert. Liegt es daran, dass ich eine Frau bin? Frauen, die allein an einem Tisch sitzen, egal welchen Alters, sieht man hier tatsächlich sehr wenige. Ich habe mal gelesen, dass die Kellner in gewissen Restaurants angewiesen sind, nur junge, schöne Menschen vorne zu platzieren. Jung und schön. Beides bin ich nicht. Schon die Idee, im Quartier Latin etwas essen zu wollen, war bescheuert.

Touristen: Schwarmweise einfallende Asiaten, viele Englisch Sprechende, ich höre Spanisch, etwas weniger Italienisch, noch weniger Deutsch. Nirgends sehe ich etwas in Deutsch angeschrieben, neben Französisch nur Englisch und manchmal noch Spanisch. Ob es daran liegt, dass die Franzosen die Deutschen nicht mögen? Und umgekehrt? War das schon immer so oder erst seit den beiden Weltkriegen? Sie sind schon sehr verschieden.

Gastfreundschaft: Die Schnoddrigkeit, mit der die Touristen hier abgefertigt werden, ist ärgerlich. Andererseits kann ich es auch verstehen. Gerne hätte ich die beiden Ballermänner am Nebentisch, die sich junge Girls aufgerissen hatten und dümmliche Witze erzählten, gleich mit einem Einfachticket nach Mallorca zurückgeschickt.

Église St-Julien-le-Pauvre: Hierher zog es mich, weil ich die Schlichtheit dieser kleinen romanischen Kirche und das hübsche Plätzchen davor mag, das griechisch-katholische Interieur mal ausgeklammert, und weil ich keine Lust mehr hatte auf Menschenmassen. Der Pianist spielte Liszt und Chopin, wie könnte es anders sein, beim Programm für die Zufallsbesucher setzt man auf Nummer sicher, es wird schon etwas bemühend. Sein Spiel war virtuos, musikalisch interessant, aber streckenweise viel zu schnell, jedenfalls für meinen Geschmack. Bestimmt ein guter Pianist, besser jedenfalls als die Schmalztante in der Sainte- Chapelle, trotzdem nahm er mich nicht gefangen. Warum müssen heute so viele Pianisten ihre technische Könnerschaft durch immer noch schnellere Interpretationen unter Beweis stellen? Musik ist doch keine Sportveranstaltung.

Sonntagnachmittag, im Café Victor Hugo, Place des Vosges

Heute steht ganz Paris im Zeichen der Musik. Überall finden Konzerte statt, drinnen und im Freien, in allen möglichen Musikrichtungen und immer bei freiem Eintritt. Die Fête de la Musique. Ich bin ganz beglückt, dass ich hier bin, jetzt, da sie stattfindet. Gerade komme ich vom Konzert in der Madeleine, und für heute Abend habe ich mir das Orgelkonzert in der Notre-Dame vorgemerkt. Wenn es mir nicht gefällt, versuche ich es im Louvre, wo Pierre Boulez unter der Glaspyramide das Orchestre de Paris dirigieren wird.

Bevor ich Richtung Notre-Dame weitergehe, gönne ich mir eine Pause, an einem Tischchen unter der Arkade, und träume davon, wie schön es manchmal eben doch wäre, sehr viel Geld zu haben. Dann könnte ich mir hier, am schönsten Platz von Paris, ein Appartement kaufen, mitten im trendigen Marais. Das einzige, was ich diesen Menschen aus der Welt der Reichen und Schönen missgönne, shame on me, ist das Privileg, das ihnen die exklusivsten Orte dieser Welt vorbehält, Orte, wie dieser Platz in seiner perfekten Harmonie.

Das Konzert in der Madeleine ­– Messiaen und Saint-Saëns – hätte mir sehr gut gefallen, nicht zuletzt, weil ausschliesslich junge Leute gespielt haben, was immer eine Freude ist. Wenn nicht diese Stühle gewesen wären. Ich habe unendlich gelitten beim Sitzen, mein Rücken ist nicht geschaffen für diese unbequemen, geflochtenen Kirchenstühle, niedrig und klapprig wie Kindertabourettchen, sie sind die grausame Strafe Gottes für die elenden Sünder, die Erlösung folgt nach dem Amen, wenn man sich wieder erheben darf. Das Konzert war ohne Pause, ab der zweiten Hälfte hätte ich dringend mal gemusst. Aber wo geht man in der Kirche auf die Toilette? Also verklemmen – eine weitere Strafe Gottes. Trinken und an unmöglichen Orten müssen oder nicht trinken und dann irgendwann gar nicht mehr können? Eine Art Circulus vitiosus. Vom Teufel. Passt.

Das Innere der Madeleine ist einfach nur grässlich, das hatte ich vergessen. Und als ob das nicht genügte, ist sie momentan zusätzlich verunstaltet durch – so finde ich jedenfalls – schauderhaft kitschige Kunstobjekte. Sie erinnerten mich an die Ausstellungen in Langres, die der lokale Kunstverein jeweils für seine Hobbykünstler organisierte. Aber vielleicht waren es bloss die Stühle, die mich zu diesem ungnädigen Urteil verleiteten.

Montagmorgen, in der Brasserie Aux P.T.T., Rue Cler

Ich erschauere jedes Mal, wenn in einer Kathedrale die Orgel einsetzt und den Raum mit ihren mächtigen Klängen füllt und ihn dabei noch höher und offener werden lässt. Aber konzentriertes Zuhören war unmöglich am gestrigen Orgelkonzert. Touristen kamen und gingen, schwatzten andauernd, nestelten an ihren Rucksäcken, schlarpten beim Gehen mit den Sandalen oder klapperten mit den Absätzen. Dabei war es ein angekündigtes Konzert von jungen Organistinnen aus der ganzen Welt, die Werke von Bach, Franck, Schumann und modernen, mir unbekannten Komponisten spielten, stellenweise wunderschön. Ich verstand nicht, warum man sich da nicht hinsetzt und einfach zuhört. An diesem Ort, mit dieser Musik, in dieser Kirche, aus dieser mächtigen Orgel, und überhaupt. Vielleicht bin ich einfach nur sentimental.

Nach einer Weile entschied ich mich, es doch noch im Louvre zu versuchen, das Konzert begann erst um zehn. Die anstehende Schlange war so lang, dass mir der Securitas-Mann gleich abriet, mich auch noch hinten anzustellen, es habe keinen Zweck, es zu versuchen, es sei schon jetzt praktisch voll. Gegen seinen Rat und natürlich auch ganz gegen meine Gewohnheit mogelte ich mich sehr weit vorne in die Schlange, was mir zwar ein paar böse Blicke eintrug, aber einen der letzten Plätze sicherte.

Es wurde ein Erlebnis der seltenen Art. Vorne der gefeierte Dirigent, der Strawinskys aufwühlenden Oiseau de Feu dirigierte, vor ihm am Boden sitzend und bewundernd zu ihm aufblickend die Zuhörerinnen und Zuhörer, darunter sehr viele junge Leute, ein ganz anderes Publikum als in der Notre-Dame, hauptsächlich Franzosen, nur wenige Touristen, über uns die Pyramide, an ihrem unteren Rand eine graue Silhouette aus Menschen, die neugierig durch das Glas nach unten blickten, vermutlich ohne etwas zu hören, darüber der eindunkelnde Himmel mit den Sternen. Fantastisch, schräg und einmalig zugleich.

Montagabend, im Deux Magots

Während in der dichtbesetzten Veranda die Touristen sich freiwillig zusammendrängen, geniesse ich es, hier drin zu sitzen, einen Teller Crudités zu essen und mein Glas Wein zu trinken, ganz allein, als einziger (weiblicher) Gast. Ein charmanter, älterer Herr bedient mich aufmerksam und freundlich, wahrscheinlich lässt man ihn hier arbeiten, weil er nicht mehr so schnell ist und zu viele Gäste ihn überforderten, jedenfalls scheint er dankbar zu sein, überhaupt einen Gast, in meinem Fall einen weiblichen, bedienen zu dürfen. Seine Liebenswürdigkeit versöhnt mich beinahe wieder mit den französischen Kellnern. Den ausgezeichneten, nicht allzu teuren Wein, den er mir empfohlen hat, koste ich genüsslich, mit Andacht schaue ich mich um, in diesem schönen Lokal, wo tatsächlich noch etwas von einer vergangenen Ambiance zu spüren ist.

Ich denke an Simone de Beauvoir, die ich bewunderte für ihre Entschlossenheit, mit der sie sich gesellschaftlichen Normen widersetzte. Sie war nicht die erste Frau in der Geschichte, die Grosses gedacht und geleistet hat und sich, um ihr Ziel zu erreichen, gegen die vorherrschende (vor-«herrschend», die Sprache verrät es, die von den herrschenden Männern geprägte) Moral durchsetzen musste. Sie und Sartre waren für mich damals das ideale Paar, so hatte ich es mir vorgestellt, als meine Welt noch voller Möglichkeiten war, eine Beziehung auf Augenhöhe, unzertrennlich verbunden und doch frei. Ohne Lügen. Es war ein idealistisches Bild, wie ich heute weiss.

 

Den Tag habe ich wieder mit Bummeln verbracht, hauptsächlich im Marais. An der Rue des Francs Bourgeois habe ich mal einen Mantel gekauft, viel zu teuer für meine Verhältnisse, aber ich habe ihn geliebt und jahrelang getragen. Irgendwann war er so abgetragen, dass ich ihn nicht einmal mehr in die Kleidersammlung geben konnte und ihn schweren Herzens wegwerfen musste.

 

Ein weiteres Vorurteil muss ich revidieren: Es gibt auch klassisch elegantes französisches Design, ohne gleich überkandidelt zu sein. Ich dachte, dass nur die Italiener das können. Auch die Stoffe sind heute besser, nicht wie früher, als die meisten (bezahlbaren) Kleider aus gemischt-synthetischem Material hergestellt wurden.

 

Im Musée Picasso nahm ich mir viel Zeit, verweilte lange vor jedem einzelnen Bild und begann zu begreifen, was für ein Genie Picasso war.

«Pour moi il ny a pas de passé, ni d'avenir en art. Si une oeuvre ne peut vivre toujours dans le présent, inutile de s'y attarder.»

«Un tableau ne devrait pas être un trompe l'oeil, mais un trompe l'esprit.»

Damit ist fast alles gesagt.

Witzig, die laufende Daniel Buren-Ausstellung mit dem mehrere Meter hohen und breiten Spiegel draussen im Eingangshof. Er steht im 90 Grad-Winkel zum Eingang und trennt den Hof real in zwei Hälften, eine sichtbare und eine verdeckte. Aber durch den Spiegel scheinen der Hof und die geteilte Fassade des Hauses wieder durchgehend. Stellen sich Leute davor, sieht man sie doppelt, einmal das Original, in die Kamera blickend, daneben das gespiegelte Bild in die andere Richtung.

Gleich werde ich in ein Konzert in der Église St. Sulpice gehen, ich hatte eine Karte besorgt, obwohl ich eigentlich keine Lust mehr habe, ich bin etwas überfüttert. Aber in der Wohnung kann ich nicht bleiben, sie ist zu eng, zu ungemütlich, es gibt kaum Platz und nicht genügend Licht, um zu schreiben, einen Film, der mich interessiert hätte, habe ich nicht gefunden, und einen Abend lang in einem Lokal sitzen und allein essen mag ich gerade auch nicht. In solchen Momenten fehlt mir die Gesellschaft eines Gesprächspartners oder einer Gesprächspartnerin.

Dienstagmorgen, in der Brasserie Aux P.T.T., Rue Cler

Vom Konzert habe ich nicht viel mitbekommen, ich weiss nicht einmal mehr, was gespielt wurde, die Konzentration liess früh nach, ich war dauernd woanders. Danach war ich unruhig, wusste, ich könnte nicht schlafen und bin zum Eiffelturm gefahren. In zügigem Tempo stieg ich die Treppen hoch zur zweiten Plattform, kurz vor Mitternacht, ich wusste, sie würden bald schliessen. Ich war die Einzige weit und breit, als ich dort oben in der Dunkelheit stand und über das Pariser Lichtermeer blickte und mir einbildete, ich hätte den Eiffelturm ganz für mich allein.

Heute reise ich ab. Vorher will ich noch ins Musée Quai d'Orsay, diesen alten Bahnhof, dessen faszinierende Dachkonstruktion mich jedes Mal von Neuem fasziniert. Viel Zeit bleibt diesmal nicht, also werde ich mich auf die Sammlung der Impressionisten fokussieren, denen ich treu geblieben bin, seit ich damals mit Steffi in der Orangerie zum ersten Mal im Original gesehen habe, was unser Kunstgeschichtelehrer uns so sehr ans Herz gelegt hat. Sein Einfluss hat ein Leben lang gehalten, ich liebe die Impressionisten noch heute.

Dienstagmittag, im Restaurant Poule au pot Paris 7 (das an der Rue de l’Université in der Nähe der Place des Invalides, nicht das bekannte mit den Guide Michelin-Punkten)

Das Lokal ist bezaubernd. Ein authentisches Café, im übertragenen und im wörtlichen Sinne um die (Strassen-)Ecke, wie man sie hier oft sieht. Das Interieur aus der Jahrhundertwende, die Decke mit Stuckaturen und Rissen, geschnitzte Eichentheke mit einer metallenen, ziselierten Bordüre, gemustert gekachelter Boden, alte Wienerstühle, kleine quadratische Tische, im Nebenraum eine diskret hellrosa gemusterte Tapete und ein alter, ovaler, fast blinder Spiegel, Drucke von Toulouse-Lautrec an den Wänden, hauptsächlich französisch sprechende Gäste. Einmal mehr ausgesprochen gleichgültiges Personal, gestresst und ziemlich unhöflich. Aber die Hausspezialität «Poule au pot» ist für Pariser Verhältnisse gut: Ein Eintopf mit gekochtem Huhn, Lauch, Kartoffeln und Rüebli.

Paris erfüllt alle Erwartungen und bestätigt alle Vorurteile. Die Stadt ist eine Diva. Schön, elegant, egozentrisch, man verfällt ihr, ohne sie zu lieben. Ihren Charme behalten hat sie in den zahlreichen Bäckereien mit den verführerischen Auslagen, aus denen es am Morgen herrlich nach frischem Brot duftet, in der alten Apotheke im Quartier, in der mit Büchern vollgestopften Librairie, oder im Bistro, wo die Menschen am Morgen ihren petit café trinken und die Zeitung überfliegen, bevor sie weitergehen zur Arbeit. Da, wo das alltägliche Leben stattfindet.