Sonntag, 30. Juni 2013

Fremdwörter sind oft ungenau

Kürzlich hat mir ein Tischnachbar – ein Geschäftsmann - erzählt, wie ein Journalist auf eine seiner Antworten anerkennend genickt habe: „Das war stringent formuliert, gratuliere!“ Indem er mir das erzählte, wollte mein Tischnachbar nicht etwa sich selber loben, sondern sich über den Journalisten lustig machen.
Die Geschichte ist mir nachgegangen. Tatsächlich hätte der Journalist die klaren Worte seines Interviewpartners ja auch genau so klar auf Deutsch kommentieren können. Aber er gebrauchte ein Fremdwort: „stringent“. Warum? Wollte er seine sprachliche Überlegenheit markieren? Machte er sich wichtig? Was hat er überhaupt gemeint? Dass die Antwort „schlüssig“ oder „nachvollziehbar“ oder „lückenlos“ oder „zwingend“ war? Oder dass sie „zusammenziehend“, resp. „zusammenfassend“ war, analog der lateinischen Herkunft? Was nun?
Fremdwörter sind nicht immer genau. (Und wenn sie es sind, können sie offenbar auch zur Falle werden: So las ich zum Beispiel im Tages-Anzeiger einen Artikel, worin der Autor aus einer Menge Protestierender lauter Protestanten gemacht hat, wogegen diese ganz bestimmt sogleich wieder auf die Strasse gegangen wären um erneut zu protestieren…)
Einige Tage später sassen wir nach der Chorprobe zusammen. Diesmal neben mir ein pensionierter Institutsleiter. Er erzählte anschaulich und spannend von seinen Studienreisen. Auf unsere bewundernden Bemerkungen meinte er, jetzt könne er sich ja zum Glück so ausdrücken, wie ihm der Schnabel gewachsen sei. Das sei leider im wissenschaftlichen Betrieb nicht möglich. Warum eigentlich nicht? Hoimar von Dittfurth hat einmal sinngemäss geschrieben, jemand habe eine komplexe Materie erst dann wirklich begriffen, wenn er sie so erklären könne, dass der einfachste Mensch sie verstehe.
Mir ist der Schulpsychologe in den Sinn gekommen, dem wir das Interview zur Autorisierung vorgelegt hatten. Er strich praktisch all seine Antworten und dazu auch noch ein paar Fragen durch, um sie durch „wissenschaftlich korrekte“ Formulierungen zu ersetzen. Obwohl er, wie er zugeben musste, absolut richtig verstanden worden war und die Antworten auch dem entsprachen, was er gemeint hatte. Trotzdem beharrte er auf der „Fachsprache“. Auf unseren Einwand, dass die Leserschaft kein Fachpublikum sei, meinte er nur, wenn der Artikel in der „übersetzten“ Form erscheine, würden ihn seine Kollegen nicht mehr ernst nehmen… Das Interview ist nie gedruckt worden.
Als Journalisten lernen wir, ein komplexes Thema allgemein verständlich aufzubereiten. Vorausgesetzt wir haben – im Sinne von Dittfurth – die Materie begriffen. Wenn nicht, bieten sich die Fremdwörter geradezu als idealer Griff in die Trickkiste an. Nichts ist geeigneter, einer ungefähren, schwammigen Aussage den Anstrich von Seriosität und Genauigkeit zu verleihen.
Niemand hat die Unart, sich hinter Fremdwörtern zu verstecken, scharfzüngiger gegeisselt als Wolf Schneider. Viele unter uns Älteren mögen sich noch an seine geistreichen Kolumnen in der NZZ erinnern. Er war so etwas wie der Deutsch-Papst für Journalisten. Ich weiss noch, wie er unsere Texte gnadenlos zerpflückt hat, und wie wir ihm selten etwas entgegen setzen konnten. Wer selbstkritisch genug war musste zugeben, dass er eigentlich immer Recht hatte. Denn sein literarisches Wissen, das er vergleichend beizog, war immens – pardon, riesig - und seine sprachliche Kompetenz – pardon, Fähigkeit - nicht minder – pardon, weniger - beeindruckend.
Über die Notwendigkeit der „wissenschaftlichen Fachsprache“ gerate ich ab und zu mit einem Freund in die Haare, einem sehr gebildeten und sehr wissenschaftsgläubigen Menschen, der mich jeweils mitleidig belächelt, wenn ich mich in Rage – pardon, in Wut - rede. Natürlich ist mir auch klar, dass die Wissenschaft nicht ohne Fachausdrücke auskommt und natürlich ist mir auch klar, dass diese Fachausdrücke weltweit verständlich und gleichbedeutend sein müssen, ohne dass sie jedes Mal übersetzt werden müssen. Und mir ist auch klar, dass es für gewisse Dinge gar keine anderen Bezeichnungen gibt als die fachspezifischen.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass so manches komplexe Problem deutlicher und somit verständlicher und womöglich lösbarer würde, müsste es „ausgedeutscht“ werden. So mancher könnte sich dann nicht mehr hinter Floskeln verstecken, um seine wahren Absichten zu vertuschen. Und mancher könnte sich nicht mehr darum herum drücken, dass er etwas nur halb oder nur der Spur nach verstanden hat.
Der Freund, mit dem ich mich ab und zu streite, ist ein vielseitig interessierter Akademiker, der sich sein Wissen akribisch genau aus den wissenschaftlich und aus den von Bildungsbürgern anerkannten Quellen zusammenträgt und aktualisiert. Aber ihm fehlt die Freiheit, sich von festgeschriebenen Regeln zu lösen und kreative neue Ideen zu entwickeln. Und er vergisst, dass die wichtigsten Erkenntnisse oft ein Produkt des Zufalls sind, kreative Eingebungen sozusagen. Diese entstehen nicht, indem man sich an Regeln festklammert. Das gilt überall. Auch beim Schreiben. Es gibt die klar definierte journalistische und die kreative Sprache. Spannend wird es, wenn ein Autor beides beherrscht und miteinander verbinden kann. Möglichst ohne Fremdwörter.

Sonntag, 16. Juni 2013

Unser täglich Lärm gib uns heute...

Endlich Sommer! Eigentlich hatte ich mich auf einen friedlichen Nachmittag auf meinem kleinen Balkon gefreut, um - fernab vom Getümmel an der Seepromenade - in aller Ruhe ein paar Mails zu beantworten und danach die Biographie über Mani Matter fertig zu lesen, die mich so sehr an meine eigene Berner Zeit erinnert.
Kaum habe ich mich gemütlich eingerichtet, die ersten aggressiven Bässe aus einem langsam vorüber ziehenden, voll aufgedrehtem Kassettenrecorder… diese unangenehm aggressiven Bässe, die meinen gefühlten Blutdruck jedes Mal gefährlich steigen lassen… Nicht aufregen, denke ich, gleich sind sie weg, Richtung See…
Denkste! Ein paar Minuten später schon der nächste Sound… diesmal irgendwas Hardrockiges, selbstverständlich ebenfalls volle Pulle aufgedreht… als nächstes ein Auto mit geöffnetem Dach, arabischer Singsang erfüllt jetzt die Gegend… und so weiter…
Ich nehme an, sie sind alle jung, in Gruppen, ich kann sie nicht sehen nur hören, ihre Musik, ihre Stimmen, die den Lärm übertönen müssen, ihr Gelächter. Und sie mir vorstellen: Je nach Aggressivitätsgrad der Musik anders gekleidet, mal mit langen Haaren, mal kahl geschoren bis auf den stehen gelassenen, lächerlichen kleinen Büschel auf dem Kopf. Die Welt gehört ihnen, sie sind im Recht, was immer sie tun, wo immer sie stehen und gehen und ihre Duftmarke hinterlassen. Ob als Lärm oder als liegen gelassener Abfall. So scheint es mir jedenfalls manchmal und ich frage mich, ob ich langsam zu alt werde oder ob Rücksichtnahme tatsächlich nicht mehr zum Wortschatz der jungen Generation gehört.
Es ist nicht der alltägliche Lärm, der mich stört, weder die Autos, die vorbei fahren, noch das übliche Stimmengewirr, auch nicht das Schreien der Kinder, das ja manchmal auch ganz schön laut sein kann. Sogar die sporadischen Motorengeräusche eines Helikopters oder eines Lasters bringen mich nicht aus der Ruhe, denn dieser Lärm ist in der Regel unvermeidbar.
Mich stört ein ganz bestimmter Lärm, jener, der aus Gedankenlosigkeit entsteht, der sich mit ein bisschen mehr Rücksicht auf die Mitmenschen vermeiden liesse. So man denn wollte...
Aber eben: Man gewöhnt sich an allem, auch am Dativ...!
So habe ich mich mittlerweile an die langen und meist lautstarken Verabschiedungen nach Beizenschluss gewöhnt. Sogar an das Gekreisch der Teenies unter meinem Schlafzimmerfenster. Irgendwann verschwinden sie in die nächste Location oder nach Hause, denke ich dann. Aufregen nützt nichts, ich wusste ja, worauf ich mich einlasse, als ich in die Stadt zog. Also gehe ich jetzt einfach später ins Bett, stecke Pfropfen in beide Ohren und schliesse das Fenster, auch wenn’s noch so heiss ist draussen. Gegen Morgen lasse ich dann die frische Luft herein und schlafe noch eine Weile weiter. Vorausgesetzt ich habe Glück und es fährt gerade kein getunter Töff vorbei, dessen Lärm im umgekehrten Verhältnis zur Hirnmasse seines Fahrers stehen muss, und auch kein schnittiger BMW mit Turbomotor, an dessen Steuer ein Möchtegern-Macho sitzt, der sich bei seiner Begleiterin wichtig machen muss, weshalb die aufgedrehten Bässe schon zu hören sind, wenn das Auto noch kilometerweit entfernt ist.
Aber selbst daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Mein Schlaf wird zwar immer häufiger gestört, und das nicht nur in den Sommermonaten, aber ich hab’s ja so gewollt, ich wollte ja unbedingt in die Stadt, ich blöde Kuh. Ich könnte ja ausziehen und mir eine ruhige Wohnung auf dem Land suchen, wo ich mich dann über die Grillen, das frühmorgendliche Vogelkonzert oder das Kuhglockengebimmel ärgern kann…
Aber ich bin nun mal ein Stadtmensch. War es schon immer.
In letzter Zeit hat sich eingebürgert, bei offenem Fenster Wohnungspartys zu feiern. Mal in dem einen, dann wieder in einem andern Haus in der Nachbarschaft. Obwohl ich in einen Wohnquartier lebe und nicht etwa in der Ausgehmeile von Zürich. Diese Feste dauern selbstverständlich über die Polizeistunde hinaus bis in die frühen Morgenstunden, und wie bei Partys so üblich, wird die Stimmung von Stunde zu Stunde etwas ausgelassener und entsprechend lauter. Ich glaube nicht, dass sich die Feiernden bewusst sind, dass sie eine ganze Nachbarschaft belärmen. Ich bin sogar überzeugt, dass bei ihnen dieser Gedanke überhaupt gar nicht erst aufkommt.
Das bringt mich jedes Mal in einen Konflikt. Soll ich aufstehen, rüber gehen und denen sagen, dass sie doch so nett sein und das Fenster schliessen sollen, damit ich wieder schlafen kann. Aber ehrlich gesagt, da stinkt mir. Und ausserdem fehlt mir der Mut. Was ist, wenn ich die Einzige bin, die nicht schlafen kann? Ausserdem, würden sie mich überhaupt ernst nehmen? Wohl kaum. Sie würden mir vermutlich versprechen, dass es nicht wieder vorkommen wird, und dabei denken, die blöde Alte soll doch wegziehen, wenn es ihr nicht passt.
Ich gebe zu, ich hab schon daran gedacht, die Polizei zu rufen. Denn eigentlich wäre ich im Recht: Ab 22 bis 7 Uhr gilt laut Polizeiverordnung eigentlich Nachtruhe. Aber irgendwie halte ich mich dann doch nicht dafür. Ziemlich spiessig, die Polizei zu rufen, oder nicht? Und wer will schon als Spiesser gelten? Oder als nörgelnde Alte?
Wahrscheinlich werde ich mich auch noch an die Partys gewöhnen. Als ausgesprochen friedlicher und toleranter Mensch, der gerne alle so leben lässt, wie sie möchten, begnüge ich mich damit, meinen Ärger aufzuschreiben. So wie jetzt. Als Trost bleibt mir die Hoffnung, dass mit zunehmendem Alter auch mein ausgezeichnetes Hörvermögen abnehmen wird, über das ich zumindest jetzt noch verfüge und das ich besonders schätze, wenn ich beispielsweise Musik höre - auch mal laut, aber dann bei geschlossenem Fenster und sicher nicht mitten in der Nacht  - oder im Wald den verschiedenen Lauten der Natur nachlausche.
Grüne Parteien beklagen den Privatverkehr und den Fluglärm, die SP verlangt mehr Freiraum für die Jungen und findet verständnisvolle Worte für jede noch so idiotische neue Mode, etwa den Botellon, die wohl eher aus Langeweile und zu viel als zu wenig Freiheit heraus entsteht. Denn die Jungen sind die zukünftigen Wähler. Mit ihnen will es sich keine Partei verderben.
Das ist mir natürlich bewusst. Trotzdem frage ich mich, ob eine Partei – es dürfte selbstverständlich auch eine so genannt bürgerliche sein - tatsächlich den Mut hätte, sich dem Schutz der städtischen Wohnbevölkerung vor dem ständig zunehmenden Lärm unserer überbordenden Spassgesellschaft anzunehmen. Auch wenn sie sich damit beim Gewerbe mit grosser Wahrscheinlichkeit und bei den Jungen garantiert unbeliebt machen würde.
Ist wohl bloss eine rhetorische Frage.