Sonntag, 28. Juli 2013

Morgens am See

Sieben Uhr morgens. Um diese Zeit gehört der Park mir. Mir ganz allein!… Na ja, fast.
Bis ich zurück bin, will ich meinen ersten Satz im Kopf haben…
Herrlich! Diese Ruhe! Diese Luft! Diese Frische! Jetzt tieeeef durchatmen, tieef in den Bauch. So ist's gesund. Wird im Alter immer wichtiger, sagt der Hirzel. "Im Alter!" Da meint er wohl mich damit. Charmant!
Also los, der erste Satz. Konzentrier dich!
… Sieh da, der Typ mit der stinkenden Zigarre führt neuerdings einen Deutschen Schäferhund Gassi. Sein Rottweiler hat offenbar das Zeitliche gesegnet. Oder einen anderen Hund verschluckt und muss nun zur Strafe zu Hause bleiben. Der Alte war bestimmt mal bei der Polizei, einer dieser scharfen Hunde. Wie der Hund so der Meister. Oder umgekehrt. Immerhin weiss er, dass er seine Kampfmaschinen an der Leine führen muss.
Konzentrier dich jetzt auf deinen Satz! 
 Ja, ja, überholt mich nur, ihr Ehrgeizlinge. Ich muss mir nichts beweisen. Ich nicht! Ich mach das bloss zu meinem reinen Vergnügen. Na ja, ein bisschen auch für die Gesundheit eben. Und für die Linie. Auch wenn's nichts nützt. Fett verbrenne man nur beim Frieren, sagt der Küng. Wolle ich abnehmen, müsse ich im eiskalten Wasser schwimmen. Dann sind mir die paar Fettpolster doch noch lieber…
Wow, die hat einen super Arsch. Perfekte Figur - kein Gramm Fett versteht sich -, braungebrannt, kurzes hellblondes Haar. Sicher eine Deutsche mit eisig blauen Augen. So eine Disziplinierte. Sieht man ihr sogar von hinten an…
Ich könnte ja einfach mit dem zweiten beginnen, ha, ha…
… Erstaunlich, die Blatterwiese erkennt man ja heute sogar noch als Rasenfläche und nicht bloss als Abfallhalde. Häufig sieht's schlimmer aus. Alles lassen sie fallen und liegen, diese Säue. Widerlich. Was sind das bloss für Menschen!? Zu faul, sich zum Abfallcontainer zu bewegen. Oder zu besoffen. Oder zu dumm. Oder beides. Nimmt mich wunder, wie das bei denen zu Hause aussieht. Wahrscheinlich räumt Mutti hinterher alles auf.
Den Text will ich unbedingt noch schreiben, morgen komme ich nicht mehr dazu…
… Den mit dem Plastiksack, den sehe ich jedes Mal, der sammelt leere Flaschen. Bestimmt für das Rückgabepfand, das er dann gleich wieder in Alk umsetzt. Sieht von weitem eigentlich noch ganz gut aus. Schlank, gross, immer mit Jeans und schwarzem T-shirt. Gerader Gang. Vermutlich ausgesteuert. Schlimm, wenn's einen trifft. Was wohl aus der jungen Rothaarigen geworden ist? Die sah auch gut aus, richtig schön sogar. Jedenfalls nicht so, wie man sich jmanden vorstellt, der aus dem sozialen Netz gefallen ist. Hab mich damals schon gewundert.
Da kommt doch tatsächlich eine, die zum Joggen den Kinderwagen stösst. Dachte, so blöd sind nur Väter. Aber heute muss frau ja schlank und rank sein, Dicke haben das Nachsehen, sogar bei der Stellenbewerbung. Selbst wenn sie besser wären. Wissenschaftlich erhärtet. Die Kate muss jetzt wohl auch gleich anfangen, ihren Schwangerschaftsspeck abzutrainieren. Den Tarif hat Heidi Klum durchgegeben, dieses ewig lächelnde sadistische Biest. Jetzt messen sich die Promis im "Wer ist nach der Geburt sein Fett schneller los"-Wettbewerb. Und alle machen es nach. Und weil sie sich weder eine Nanny, noch eine Gesundheitsexpertin in der Küche, noch einen Personal Trainer leisten können, scheitern sie und sind frustriert. Dann müssen sie eben mit dem Wagen samt Kind drin joggen gehen. Vielleichts gefällts ja dem Nachwuchs. Vielleicht schreit er ja dann gerade mal nicht.
Geist, erfülle mich und schenk mir den ersten Satz! Also: worum geht es im Text? Kurz zusammengefasst um dies:…
… Die scharf begrenzten braunen Flächen sind wohl noch die Folgen des Zürifäschts. Da, wo die Imbissbuden gestanden haben. 'Wir leben schöne Gärten', heisst es auf dem Kleinlaster der Gärtnerei Matter. So ein abgeschmackter Werbefurz. Wir leben Zürich. Wir leben Kino. Wir leben was weiss ich. Hauptsache wir leben es, dieses Es. Ob die Matters auf die neuen Grasrollen warten? Die sitzen wie die Vögel in einer Reihe auf dem Bänkli. Kann um diese Zeit ja noch nicht die Znünipause sein. Der spricht ist ein Schweizer. Sicher der Chef. Nehme an, die andern sind aus Spanien oder Portugal. Die, die die schlecht bezahlte Arbeit machen. Die, die man holt fürs Grobe, um sie danach möglichst schnell wieder los zu werden. Die sprechen nie Schweizerdeutsch.
Du solltest joggen, nicht rennen, mein Lieber. Das bringt gar nichts, wenn Du Dich nasskeuchst. Männer! Nimm Dir ein Beispiel an der da, wie die leichtfüssig dahintrabt. Die kann's, Du nicht, da nützt kein Schwitzen nicht.
Irgendwie hab ich den Kopf nicht bei der Sache. Ich sollte mich nicht immer ablenken lassen…
… Scheusslich, diese klobigen Holzklötze vor dem zierlichen Glaspavillon. Passen wie die Faust auf's Auge. Ein einziges solchen Möbel mag ja noch originell sein. Aber schon zwei sind zuviel. Kitschiger geht's nicht. Aus alten Latten amateurhaft zusammen gezimmert und dann von den lieben Kinderchen bemalt. Ist ja nett. Wahrscheinlich soll das künstlerisch inspiriert sein. Holz isch heimelig, oder so… Überall machen sie idiotische Vorschriften, Strichli, wie weit man mit dem Stuhl aufs Trottoir hinausrücken darf. Aber so etwas  lassen sie dann zu…
Oh je, der hatte Pech. Gleich zu dritt stehen sie um ihn rum und filzen ihn. Nicht die berittene New Yorker, aber die beradelte Züricher Polizei… miiir si mit em Veelo da, la, la… Passend zum rotweissen Velo der rotweisse Helm. Schick. Kurze Hosen. Weniger schick. Zu dritt. Einer der schreiben, einer der lesen.. hör auf, der stinkt schon, so alt ist er. Mit dabei eine Politesse. Nomen est omen. Ob sie tatsächlich höflich ist? Der Gefilzte sieht ganz nett aus, jedenfalls nicht wie ein Drögeler oder Dealer. Aber das sieht man denen ja nicht unbedingt an. Vielleicht hat er keine Papiere und wird jetzt abgeschoben…
Darüber müsste man eine Geschichte schreiben…
… Ob denen Spass macht, was die da tun müssen. Jeden Tag den Abfall der Andern einsammeln. Wo ich wohl gelandet wäre, wäre ich Afrikanerin? In einer Hütte in einem Slum, mit haufenweise Kindern, die ich nicht ernähren kann? Nachdem sie mich beschnitten haben. Unterträgliche Vorstellung. Vielleicht wäre ich auch nach Europa geflüchtet, wie die Wüstenblume, wie hiess sie noch… Das passiert mir immer häufiger. Dünkt mich jedenfalls. Hab mir allerdings Namen früher schon nicht gut merken können. Also nicht gleich in Panik verfallen…
Hoppla, das war knapp. Achtung Velofahrer!  Gefahr im Verzug! Muss wohl etwas besser aufpassen. Am liebsten würde ich jetzt umkehren, aber bis zum Bellevue muss sein, das bisschen Lärm und Gestank überlebe ich. – He, schau, wo Du fährst, Du Idiot! Die Klingel an deinem Velo ist zum Klingeln da, verdammt nochmal! Was, wenn ich gerade hätte ausweichen müssen? Dann hättest du mich glatt überfahren, du Arsch! Aber wehe, euch sieht man mal nicht. Dann werde ihr gleich aggressiv! Führt euch auf, als ob ihr überall das Vortrittsrecht gepachtet hättet! Velopüffel!…
Vielleicht verschiebe ich den Text doch auf nächste Woche…
Der Kehrichtwagen da vorne stinkt zum Himmel. Ich geh die nächste Treppe zum Quai runter, das ist ja nicht auszuhalten…
Genau! Pumpstation heisst die Beiz… Hab's glaub ich gerade zum ersten Mal gelesen, dabei gehe ich doch fast täglich daran vorbe… Den Holzpferch haben sie zum Glück wieder abgebaut. Jetzt hat's doch gleich wieder viel mehr Charme, mit den alten Blechtischen und den wackligen Klappstühlen auf dem unebenen Alphalt. Jetzt müssten sie sich nur noch etwas ähnlich Passendes zum Glaspavillon einfallen lassen…
Puaahh, der Wagen stinkt! Schnell runter…
Das eben waren Amis. Eines dieser gut aussehenden ältenen Amipaare. Gross und schlank. Beneidenswert. Europa 5 Dollars a day. Die sehen allerdings nicht so aus…
Bellevue. Halbzeit. Uund meinen ersten Satz hab ich immer noch nicht.…
… Japaner. Unverkennbar. Die erkennt man an den Fotoapparaten. Weiss noch in Hongkong damals. Da haben sie carweise Japaer ausgekippt, die standen eine Weile da, haben fotografiert und sind wieder eingestiegen. Seltsames Volk!
Ich beginne doch einfach zu schreiben. Irgendwann fällt mir der Satz dann schon ein. Als göttliche Eingebung sozusagen…
Die da vorne reden bestimmt Deutsch. Wetten?!… Na also, was hab ich gesagt?! Deutsch ist ja jetzt die Landessprache hier, jedenfalls im Seefeld…
Eigentlich sollten wir froh sein. Man stelle sich vor, wir Schweizer wären immer nur unter uns geblieben. Dann hockten wir wahrscheinlich noch auf der Alp, jede mit jedem verwandt und verschwägert, holzklotzig ignorant und tumb. Kuhschweizer eben. Man stelle sich überhaupt ein Volk ohne jede Blutauffrischung vor. Der pure Inzest. Führt in die Verdummung, wie man weiss.
"Mein Name ist... " Ganz simpel und einfach. Aber darauf sind schon zu viele gekommen… "Mein Name sei Gantenbein" - war das eigentlich bloss der Titel?
Ich muss unbedingt mein Bruderherz anrufen und fragen, wie es Mam geht. Zum Glück wohnt er in der Nähe des Altersheims und nicht ich. Ich weiss nicht, ob ich sie so regelmässig besuchen würde wie er. Vorbildlich. Muss man ihm lassen. Ich könnte das glaub ich nicht. Der Altersheimmief ist fürchterlich deprimierend. Ich hoffe, mir bleibt das erspart. Alt werden ist so was von Zumutung! Vorher abtreten wär das Beste. Für alle. Aber ob ich den Mut dazu hätte?
Drei Viertel geschafft - oder sind's zwei Drittel, oder vier Fünftel?
Ich bin nicht Stiller. Aber der ist nicht von mir.
Der Weg hinter dem Pavillon ist schattiger, ich nehme besser den. Bin mir noch immer reuig, dass ich letztes Mal dem Typ nichts gesagt habe, der die Kacke seines Hundes einfach hat liegen lassen. Ob er eigentlich kein Hirn im Kopf habe, hätte ich sagen sollen, ob er sich nicht vorstellen könne, dass hier auch Kinder spielen. Aber wahrscheinlich hätte ihn das überhaupt nicht gekratzt. Wahrscheinlich hätte er nur gedacht, du blöde Kuh, halt dein Maul, und mich womöglich noch zusammengestaucht.
Bald geschafft! Nur noch das letzte Stück am Ufer…
Vielleicht fällt mir der Satz ja unter der Dusche ein…
Welche Wohltat diese Stille hier. Nur das Plätschern des Wassers, das über den Steinen zusammen schlägt und das leise Scheppern der Boote. Richtig idyllisch. Ich könnte stundenlang zusehen, wie die Enten und Schwäne sich auf den weichen Wellen wiegen lassen. Nur die Möven sind noch nicht da. Bloss vereinzelte. Wahrscheinlich, weil noch niemand zu sehen ist, der sie füttert.
Irgendwann werde ich einen dieser Steintürme anstossen und schauen, was passiert. Ist mir ein Rätsel, dass die stehen bleiben. Vielleicht ist ja doch ein Trick dahinter, vielleicht sind sie ja doch geleimt. Aber das hätte ich gesehen, als ich mal zugeschaut habe, wie einer sie aufgetürmt hat, einen grossen Stein zuunterst, darauf einen kleinen, schmalen, hoch gestellten, darauf wieder einen dicken, und so weiter. Unglaublich, dass das hält.
Der Rest ist Schweigen. Aber das ist ein letzter, kein erster Satz…
Am liebsten würde ich jetzt noch ein bisschen hier bleiben und Sonne tanken. Wäre gut für die Knochen. Aber ich muss unbedingt am Text arbeiten. Morgens kommen die besten Ideen…
Oder auch nicht.
"Ich habe einen schlechten Charakter und eine gute Figur. " Der würde mir gefallen. Aber den hat schon jemand erfunden.




Donnerstag, 11. Juli 2013

Scharia und Demokratie schliessen sich aus

Ich freue mich mit der wachsenden Hälfte der ägyptischen Bevölkerung, die mit ihrem Protest erreicht hat, dass Mursi abgesetzt wurde. Als Frau bin ich sowieso und als Aegypterin wäre ich ebenfalls ohne jeden Zweifel auf deren Seite und verstünde nicht, weshalb im Westen überhaupt die Frage aufkam, es könnte sich um einen Putsch handeln. Das Militär hat sich auf diejenige Seite des Volkes gestellt, welche die Demokratie will. So lange das Militär die Macht nicht für sich in Anspruch nimmt und weiterhin die Demokratiebewegung unterstützt - und danach sieht es aus - so lange war das kein Putsch, sondern ein demokratisch legitimierter Umsturz.
Ein Bekannter von mir ist – säkularer - Aegypter. Er telefoniert täglich mit seinen Leuten in Aegypten. Sie sagen alle das Gleiche: Die Funktionäre der Muslimbrüder seien - was man hier viel zu wenig wisse - unendlich reich und stockkorrupt, darin stünden sie dem alten Regime in nichts nach. Wie weit das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Aber offensichtlich ist auch bei uns die Tatsache, dass in dem Jahr ihrer Regentschaft so ziemlich alles den Bach hinunter gegangen ist. Deshalb ist mein Bekannter so enttäuscht, wie hier im Westen von gewissen Kommentatoren die Moralkeule geschwungen und in gewissen Medien nur diese legalistische Sichtweise verbreitet wird.
Die Muslimbrüderschaft hat sich als unfähig zum demokratischen Kompromiss erwiesen und als unfähig, das Land in die Zukunft zu führen. Damit hat sie sich selber desavouiert. Jetzt auf dem Argument zu beharren, ein demokratisch gewählter Präsident sei illegal per Putsch gestürzt worden, ist nicht nur arrogant, sondern auch scheinheilig. Wer verfolgt hat, wie sich die Muslimbrüderschaft sukzessive alle Machtpositionen gesichert hat, wie sie mit der undemokratisch zustande gekommenen Verfassung die Scharia einführen wollte, ein religiöses Gesetz, dem sich alle zu unterwerfen gehabt hätten, also auch die Kopten und die säkularen Aegypter, für den ist es keine Frage, dass es richtig war, diese Entwicklung noch rechtzeitig zu stoppen. 
Am Abend des Umsturzes wurde bei CNN eine amerikanische Politologie-Professorin einer New Yorker Universität interviewt. Sie sprach perfekt Amerikanisch, trug aber ein Kopftuch und erklärte mit grimmiger Miene, - sinngemäss zitiert - es handle sich um einen illegalen Militärputsch. Ich traute meinen Ohren nicht. Aegypten befindet sich in einer völlig desolaten Situation, die Menschen sehen keine Zukunft mehr, 22 Millionen Menschen sprechen sich für die Absetzung Mursis aus, Hunterttausende gehen dafür auf die Strasse, auf der andern Seite stehen die Anhänger der Muslimbrüderschaft, entschlossen, die gewonnene Macht ihrer Führer zu verteidigen. Eine Pattsituation. Mit andern Worten: Stillstand. Darin die Gefahr eines Bürgerkriegs. In dieser Situation ging es doch bloss noch darum, auf welche Seite sich die Armee schlagen würde. So oder so musste sie sich entscheiden. Und sie hat sich gegen eine Diktatur der Scharia und für jenen - immer grösser werdenden - Teil der Bevölkerung entschieden, der sich die Demokratie wünscht.
In den USA wird jetzt rechtlich abgeklärt, ob es sich um einen Militärputsch oder einen Umsturz gehandelt hat, und gewisse Politiker wollen die Gelegenheit nutzen, den Geldhahn Richtung Aegypten ganz abzudrehen. Für mich unverständlich. Es sei denn, die amerikanische Politik ist an der Herrschaft der Muslimbrüderschaft interessiert. Es geht ja in der Politik vor allem um Eigeninteressen und Einfluss, selten um das Gesamtwohl der Völker.
Ich bin weder Politik- noch Nahost-Expertin, ich kenne die Rolle der Muslimbrüderschaft im heiklen Umfeld des Nahen Ostens nicht. Wenn ich hier Stellung beziehe, dann aus der Überzeugung, dass alle Menschen das Recht auf Freiheit in einer demokratisch organisierten Gesellschaft haben. Und aus dieser Sicht war es richtig, Mursi abzusetzen. Obwohl er demokratisch gewählt wurde, von 52 Prozent, das heisst von der grösseren Hälfte der Bevölkerung. Aber das Vertrauen der andern Hälfte besass er nie wirklich, und den Kredit, den sie ihm trotzdem gab, hat er in kurzer Zeit verwirkt. Sogar das Vertrauen eines Teils derjenigen, die ihn gewählt haben. Tatsache ist: Das Kräfteverhältnis hat sich immer mehr zugunsten der Mursigegner verschoben. Denn eine demokratisch erfolgte Wahl ist noch lange kein Freischein, der es dem Präsidenten erlaubt, danach alle demokratischen Grundsätze zu missachten mit dem Ziel, die Scharia als Staatsdoktrin einzusetzen und dabei den Willen der Andersdenkenden zu ignorieren. Auf diesem Weg war Aegypten. Das hat jetzt das Volk mit Unterstützung des Militärs vorerst einmal verhindert.
Wie es weitergehen wird, ist offen. Das ist mir bewusst. Aber ich wünschte mir, dass der Westen nicht einfach abwartet, wie es ausgehen wird, um sich dann auf die Gewinnerseite zu schlagen, sondern dass er die Demokratiebewegung aktiv unterstützt, indem er ihre offiziellen Vertreter anerkennt.
Fest steht: Die ägyptische Revolution ist in eine nächste Runde gegangen. Revolutionen waren noch nie ein Spaziergang. Und die Zeit danach ist immer fragil, die Gefahr eines Rückschlags allgegenwärtig. Dass die Muslimbrüderschaft und ihre Anhänger keine Kompromisse eingehen wollen und wohl auch nicht werden, ist nicht erstaunlich. Sie haben die Demokratie nicht begriffen, auch wenn sie sich jetzt auf die demokratische Wahl Mursis berufen. Denn nach dem Gesetz der Scharia hat der Mensch diese kritiklos zu akzeptieren. Das heisst nichts anderes, als dass Demokratie und Scharia sich gegenseitig ausschliessen.
Die Situation bleibt brandgefährlich. Auch weil noch nicht klar ist, was die ideologisch noch viel gefährlicheren Salafisten anrichten werden. Mein Bekannter sagt, dass sich trotzdem ein neuer Optimismus breit macht. Weil Armee und Polizei auf der Seite der Demokratiebewegung stehen. Das ist zumindest ein gutes Zeichen.
Wie schnell jetzt mit den Erfahrungen aus dem alten korrupten System und den Lehren aus der gescheiterten Herrschaft der Muslimbrüderschaft eine neue, demokratische Gesellschaft aufgebaut werden kann, ist völlig offen. Aber der Wille der jungen ägyptischen Bevölkerung ist eindeutig. Sie hat die Freiheit gekostet. Und sie hat erfahren, dass der Mehrheitswille eines Volkes durchgesetzt werden kann. Diese Erfahrung ist auf lange Sicht entscheidend.