Mittwoch, 31. Dezember 2014

Mein Wunsch für 2015: Eigenständig denkende Menschen

Im Moment lese ich ein Buch von Richard Sennet (Untertitel: Was unsere Gesellschaft zusammenhält). Darin fand ich einen Begriff, der mir bisher unbekannt war: Tribalismus. Laut Wikipedia ist damit hauptsächlich die Lebensform alter Stammesgemeinschaften gemeint, die ihren Mitgliedern ein Zusammengehörigkeitsgefühl und damit verbunden auch ein starkes Sicherheitsgefühl vermittel(te)n.
Sennet interpretiert Tribalismus – anewandt auf die heutigen Gesellschaften – etwas differenzierter. Zitat: "Tribalismus verbindet Solidariät gegenüber solchen, die einem ähnlich sind, mit Aggression gegen solche, die anders sind." Er schreibt, dass in unseren komplexen (menschlichen) Gesellschaften Tribalismus kontraproduktiv sein kann, und dass es politisch repressiv und ein Selbstbetrug wäre, die Komplexität in ein einziges kulturelles Muster zu zwingen. Zitat: "Das 'Selbst' ist aus Gefühlen, Zugehörigkeiten und Verhaltensweisen zusammengesetzt, die selten genau zueinander passsen. Jeder Ruf nach tribaler Einhait verringern die persönliche Komplexität."
Ziemlich undifferenziert und überhaupt nicht komplex fällt mir dazu ganz spontan ein: „Populismus versimpelt!“ (Das ist selbstverständlich nur ein Aspekt aus der oben genannten Definition, aber ich greife ihn hier heraus, weil er mir in unterschiedlicher Form immer wieder begegnet und mich beschäftigt.)
Dass Populismus Komplexes auf unzulässige Weise vereinfacht und Menschen dazu verleitet, ihr Denkvermögen einzuschränken, ist ja nun keine neue Erkenntnis und bedarf auch keiner zusätzlichen Interpretation. Sorgen bereitet mir jedoch die immer weiter um sich greifende, populistische Versimpelung in der Politik (und zwar von rechts bis links), welche sich rühmt, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen und dabei bloss deren Vorurteile schürt.
Wir wissen: Machthaber sichern sich ihre Position, indem sie innere und äussere Feindbilder aufbauen. Nationalisten legitimieren ihre Ideologie mit der Behauptung, die eigene Identität sei durch das Fremde bedroht. Fundamentalisten jeglicher Couleur behaupten, im Besitz der Wahrheit zu sein… Die Liste derer, die komplexe Zusammenhänge ausschliesslich zu ihren eigenen Gunsten auf einen (zu) einfachen Nenner bringen, ist lang.
Aber nicht nur Politiker, Demagogen, Ideologen, auch die Medien neigen dazu, sämtliches zu vereinfachen. Erstere, um Stimmen resp. Anhänger und damit an Macht und Einfluss zu gewinnen, letztere, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzeugen. Auch das wissen wir und verurteilen es… und pflegen damit unsere eigenen (dünkelhaften) Vorurteile jenen Vereinfachern gegenüber, denen vielleicht nur daran liegt, Zusammenhänge der Allgemeinheit verständlich zu machen und komplexe Dinge so darzustellen, dass jeder sie versteht.
Komplexität ist anstrengend und zeitaufwändig, und weil das so ist, haben wir uns abgewöhnt, was eigentlich angezeigt wäre, nämlich jede Behauptung zu hinterfragen und selber nach den Ursachen und Zusammenhängen zu forschen, auch wenn das unter Umständen mit unangenehmen Erkenntissen verbunden ist. Wir machen uns die Mühe nicht, weil wir dazu neigen, vor allem das zu glauben, was wir glauben wollen. Wir machen es nicht, weil hinter jeder möglichen Antwort schon die nächste Frage und somit die nächste Verunsicherung wartet. Die Welt ist so komplex und die Probleme scheinbar so unlösbar geworden, dass wir lieber die Verantwortung delegieren und es bei den einfachen Erklärungen lassen und nur ab und zu unserer Empörung Ausdruck verleihen, wenn wir mit etwas gar nicht einverstanden sind.
Aber auch wenn wir uns bemühen zu verstehen: Die in Büchern, Zeitungen, Internet oder sonstwo angebotenen Hintergründe, Quellen und Interpretationen sind so unterschiedlich wie zahlreich. Was sollen wir glauben, woran sollen wir uns halten? Brauchen wir dazu eine eigene „Ideologie“? (Wikipedia: (…) im philosophischen Sinn eine Weltanschauung, die einen hohen Anspruch auf Wahrheit erhebt, und die für abweichende Lehrmeinungen kaum noch offen ist) Hilft die eigene Überzeugung, die so genannte „Wahrheit“ zu finden, das heisst, das, was der Realität am nächsten kommt? Reicht es, eine Überzeugung zu haben?
Ihr seid sicher mit mir einig, wenn ich behaupte: Nein, es reicht nicht! Denn wenn ich meine eigene Überzeugung zum Massstab der Dinge mache, blende ich aus, dass ich mich jederzeit irren kann. Nicht alles zu glauben, was behauptet wird, ist das Eine, seine eigenen (Vor-)Urteile immer wieder zu hinterfragen, das Andere. Beides gehört zusammen. Auch das keine neue Erkenntnis. Wie immer liegt es an der Umsetzung.
Nachdem ich mich als Journalistin lange genug mit unsäglich nervender Parteipolitik, mit unendlich anödenden Wahlkämpfen, mit schmerzhaft kleinkarierter und engstirniger Dorfpolitik befasst hatte, dachte ich, ich könnte mich künftig ganz aus der Politik heraushalten. Aber es gelingt mir nicht. Zwar ist es nicht mehr die ganz kleine, sondern die ganz grosse Politik, die mich heute beschäftigt. Aber letztlich verbergen sich dahinter dieselben Mechanismen.
So beschäftigen und empören mich – und jetzt komme ich auf Sennet zurück – die zunehmend tribalistischen Tendenzen: In Amerika (und anderswo) zeigt der latente Rassismus wieder seine hässliche Fratze, in Frankreich (und anderswo) nimmt der Antisemitismus wieder gefährlich zu, in ganz Europa steigert sich die berechtigte Abneigung gegen einen fundamentalistischen Islam zur Islamophobie, die jeder selbstgebastelten, von Halbwissen strotzenden Interpretation (etwa eines Andreas Thiel) Raum lässt.
Manchmal sind die Tatsachen so offensichtlich belegbar, dass ich sicher sein kann, nicht dem eigenen Vorurteil zu erliegen. So könnte ich zum Beispiel laut schreien vor Empörung über die islamistischen, bildungsfeindlichen Machoideologien, die sich als Religion ausgeben und als Instrumente für ihren kranken und brutalen Terror jugendliche Desperados verführen und benutzen. Ich könnte laut aufschreien, wenn ich an die Frauen denke, die, ohne eine Wahl zu haben, sich von diesen himmelschreiend ignoranten Dummköpfen unterdrücken und missbrauchen lassen müssen. Ich könnte laut aufschreien über die Tatsache, dass diese gewaltbereiten, brandschatzenden und mordenden Horden noch immer direkt oder indirekt unterstützt werden von Machthabern, die sie wiederum für ihre eigenen Zwecke einsetzen. Und, und…
Und dann muss ich mir immer wieder sagen: Die ganz grosse Mehrheit der Muslime hat damit nichts zu tun. Auch wenn ich mir manchmal wünschte, gerade die Muslime, die sich in nicht-islamischen Ländern in Sicherheit befinden, würden sich lautstarker distanzieren von den Gewaltherrschaften und den feudalistischen Machthabern, die im Namen ihrer Religion Angst, Terror, Unterdrückung und Schrecken verbreiten. Trotzdem: DEN Islam gibt es nicht. Der Koran lässt sich auch friedlich interpretieren. Zu Recht fühlt sich deshalb die Mehrheit der Moslems auf der ganzen Welt missverstanden und gedemütigt. Was wiederum zu neuen Vorurteilen führt. Auf beiden Seiten. Ein Circulus vitiosus. Immer wieder. Ohne Ausweg???
Ja, es stimmt, es gibt im Koran nicht ein altes und ein neues Testament. Es gibt im Islam keine Aufklärung, die den individuellen Denkprozess befördert. Viele heute noch geltenden Zitate im Koran entsprechen tatsächlich den Vorstellungen der Zeit, in der sie aufgeschrieben wurden. Aber das gilt auch für die Bibel. Jede Religion ist immer in ihrem jeweiligen Kontext zu sehen, sowohl im kulturellen, als auch im politischen und ökonomischen, und ihre Philosophie ist letztlich immer eine Frage der Interpretation innerhalb dieses Kontextes. Deshalb lässt sie sich ja auch so hervorragend instrumentalisieren.
Es ist offensichtlich: Ich bin keine Freundin von Religionen, egal welcher Herkunft. Religionen gehören zu den Hauptursachen, die zu den meisten Kriegen in der gesamten Geschichte der Menschheit geführt haben. Mit der Aussicht auf ewige Strafe oder Belohnung sind Religionen das am besten geeignete Instrument, die Menschen zu manipulieren. (Und wer jetzt sagt, das sei auch bloss eine Behauptung, der hat natürlich Recht.)
Selbstverständlich anerkenne ich, dass es spirituelle Bedürfnisse gibt, und dass viele Menschen in ihrer Religion Halt finden – und sei es auch nur in einer selbst zusammengebastelten eigenen Vorstellungswelt, welche uns das Hirn problemlos nach unseren Wünschen vorspiegeln kann. Und ich weiss, dass die Religion – sofern man denn an sie glauben kann – tatsächlich Trost spendet angesichts der ziemlich unerträglichen Gewissheit, einmal sterben zu müssen. Und zwar endgültig. Denn letztlich geht es nur darum.
Die Menschen denken sich Göttter oder einen Gott, um das Unfassbare einigermassen fassbar zu machen. Ich behaupte: Im Grunde genommen ist es irrelevant, ob ich an einen Gott glaube, egal, ob er nun kindlich personifiziert oder philosophisch abstrahiert gedacht ist. Entscheidend ist vielmehr, welche Verantwortung ich dem Leben gegenüber übernehme. Auf den kleinsten Nenner gebracht: die Verantwortung, die ich mir und meinen Nächsten gegenüber wahrnehme. Auch mit Blick auf deren Zukunft.
Folgendes hat mich – mal intensiv, mal weniger – beschäftigt im vergangenen Jahr, nebst den aktuellen Ereignissen und Katastrophen, wie sie in der einen oder anderen Art (glücklicherweise oder leider) immer wieder vorkommen:
-   Der nachhaltige Schock des 9. Februar, der auch durch das erfreuliche Ecopop-Abstimmungsresultat noch längst nicht relativiert ist;
-   der sich hartnäckig weiter verbreitende (tribalistische) Nationalkonservativismus als langfristig untaugliche, in meinen Augen sogar gefährliche, populistische Antwort auf die grossen Herausforderungen der Zukunft;
-   die Unfähigkeit, der fehlende Mut oder der nicht vorhandene Wille der meisten Politiker und Parteien (weltweit), darauf eine gemeinsame Antwort zu finden, die überzeugen könnte, etwa auf das grauenhafte, sämtliche eigenen Sorgen relativierende Flüchtlingselend und dessen bekannte Ursachen;
-   die Zukunftsblindheit der Wirtschaft, die nur ihren eigenen Gesetzen der kurzfristigen Rentabilität folgt;
-   der Egoismus der Manager, die sich der gesellschaftlichen Verantwortung entzogen haben;
-   die weltweite Korruption, welche die Schere zwischen Arm und Reich auseinandertreibt und auf zynische Art ungestraft Recht und Gesetz untergräbt;
-   die Beliebigkeit des Digitalzeitalters, das die Menschheit verändern wird (ob zum Guten oder Schlechten, weiss niemand);
-   wir alle, die wir uns Sorgen machen, beispielsweise über die Umwelt, und trotzdem fröhlich weiterkonsumieren, und, und…
Eher schon den Charakter einer Dorfposse hatte dabei der missglückte Übernahmeputsch des rechtskonservativen Lagers bei der NZZ…
Über die vielen positiven Dinge, die bei allem Pessimismus immer wieder Grund für einen optimistischeren Blick in die Zukunft erlauben, könnte ich selbstverständlich auch schreiben. Wichtiger aber finde ich, gerade dort genau hinzuschauen, wo es weh tut. Um danach etwas dagegen zu tun – im Rahmen des uns Möglichen. Und sei es nur, indem wir nicht alles glauben, was uns die Tribalisten und alle anderen Verführer dieser Welt glauben machen wollen.


Donnerstag, 13. Februar 2014

Die EU ist auch gefordert

Einem Bekannten von mir wurde aus Wien zur Abstimung gratuliert. Der Tonfall: "Endlich traut sich jemand, gegen die EU aufzumucken. Die EU entwickelt sich immer mehr zu einer Konzerndiktatur, ja wirklich, einer Diktatur."
Mal abgesehen davon, dasss der Begriff "Diktatur" hier per definitionem nicht zutrifft, kann ich verstehen, dass es viele Menschen in der EU gibt, die bitter enttäuscht sind. Im Norden sind sie wütend, weil sie für den Süden bezahlen müssen, im Süden, weil sie durch die Sparmassnahmen leiden, die ihnen der Norden aufzwingt.
Dabei vergessen sie allerdings, dass die Probleme in den meisten Fällen hausgemacht sind: Korrupte Regierungen, mangelnde Reformbereitschaft, ganze Staaten haben über ihre Verhältnisse gelebt. Wenn man hier der EU etwas vorwerfen kann, dann die Tatsache, dass sie zu lange tatenlos zugesehen hat.
Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass die EU schwerfällig und bürokratisch geworden ist. Und mit der Ausdehnung auf neue Staaten wird sie es immer mehr. Das heisst, auch die EU muss sich reformieren, muss neue Wege suchen, muss demokratischer werden, wenn sie überleben will.
Ihr Scheitern zu wünschen, was viele tun, ist meiner Ansicht nach jedoch fahrlässig.
Wir vergessen manchmal, warum die EU entstanden ist: Nicht zuletzt als Antwort auf die fatalen Folgen des Nationalismus, der zu zwei Weltkriegen geführt hat. In der Folge ist die ursprüngliche Idee jedoch immer mehr verwässert worden, bis die EU von den Generationen, denen das Kriegserlebnis fehlt, nur noch als Wirtschaftsraum gesehen wurde, von dem man profitieren kann. Als Topf, aus dem man sich bedienen kann.  Die Schweiz macht da keine Ausnahme.
Der Tunnelblick auf die wirtschaftlichen Vorteile hat aber viel mehr mit dem Neoliberalismus und der Globalisierung zu tun, die einen Wertewandel erzeugt haben, dessen Auswirkungen sich als gravierender als angenommen erweisen könnten. Der Neoliberalismus, die Globalisierung und der damit verbundene Wertewandel sind die eigentlichen Ursachen für die heutige Situation, mit der alle Staaten weltweit konfrontiert sind.
Zu glauben, man könne die Globalisierung rückgängig machen, ist eine gefährliche Illusion, dazu ist sie schon zu weit fortgeschritten. Und gerade in dieser globalisierten Welt ist der gemeinsame Markt in der EU von zentraler Bedeutung. Davon bin ich überzeugt. Denn die Unternehmen wandern dorthin, wo sie die günstigsten Wettbewerbsbedingungen bekommen.
Es wundert nicht, dass jetzt vor allem rechtskonservative und rechtsnationale bis nationalistische Stimmen die Schweiz loben. Das Lob kommt von der falschen Seite. Der Rückschritt zu nationalistischen Staaten wäre eine Katastrophe, die EU ist noch immer die einzige Alternative. Ihr Scheitern würde tatsächlich die Armut beschleunigen.
Richtig ist: Alle müssen jetzt über die Bücher. Das Zeichen, das die Schweiz gesetzt hat, schreckte hoffentlich auch die Borniertesten in der EU auf, welche glauben, die Signale aus der Bevölkerung nicht ernst nehmen zu müssen. Denn die EU ist heute tatsächlich ein bürokratisches Mammutgebilde. Hauptursache: Die Staaten wollen ihre Kompetenzen nicht an eine Zentralregierung abgeben. Das ist verständlich, aber das macht den Apparat halt auch so schwerfällig. Und je mehr sich die EU auf weitere Staaten ausweitet,  je mehr Vertragswerke einzeln ratifiziert und einstimmig angenommen werden müssen, desto mehr gleicht der Prozess einem Marathonlauf, bei dem nicht verwundert, wenn ab und zu mal der Atem ausgeht.
Aber wenn ein solches Vertragswerk schliesslich steht, dann ist es verbindlich. Ist das so verwunderlich? Und ist es verwunderlich, wenn die EU verlangt, dass ein verbindlich eingegangener Vertrag auch eingehalten wird?
Das ist auch mit der Personenfreizügigkeit so. Die EU betont zu Recht, dass der freie Zugang zum Markt den freien Personenverkehr beinhaltet. Eigentlich logisch.
Tatsache ist auch: Der Ausgang der Abstimmung in der Schweiz war hausgemacht:
Statt der angekündigten 8000 kamen 80'000. Entschlossen gehandelt hat niemand. Weder der Bundesrat, noch das Parlament, wo sich die Parteien lieber gegenseitig ausbremsen, als gemeinsam nach kreativen Lösungen zu suchen. Schon hören wir wieder die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Es ist erbärmlich. Dabei sind alle beteiligt: Die Rechte, die sich gegen flankierende Massnahmen wehrt, die Linke, die jede Verschärfung verteufelt, die Wirtschaft, die sich nur um die eigenen Interessen kümmert.
Entschieden hat schliesslich die konservative Landbevölkerung, die nicht in globalen Zusammenhängen denkt, die alte Zustände herbeiführen will, die hofft, den Lauf der Dinge aufhalten zu können. Unterstützt wurde sie von rechts bis links: von den grünen Oekofundis, den Globalisierungsgegnern, den Wirrköpfen, die das Asylwesen nicht von der PFZ unterscheiden können, von religiösen Fundis, und von ganz vielen, die der Wirtschaft und der Politik einen Denkzettel verabreichen wollten.
Sie haben damit dem Land keinen Gefallen getan. Denn wenn sich die Schweiz abschottet und isoliert, wenn sie nicht mehr profitieren kann von der EU - und das tut sie in hohem Masse-, dann wird es für sie sehr viel schwieriger, als es ohnehin schon ist, sich in einer globalisierten Welt zu behaupten.
Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Immer wenn es versucht wurde, endete es in einer Katastrophe. Sehr viel klüger ist es, sich den Herausforderungen zu stellen, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Eine Zukunft, die immer globalisierter wird, ob wir das wollen oder nicht. Mit allen Vor- und Nachteilen.
Ich weiss nicht, wie die EU reagieren wird. Sie betont, dass nun die Schweiz am Zug sei, sie betont aber auch, dass die PFZ nicht verhandelbar und eine Kontingentlösung ausgeschlossen sei. Die SVP - wie könnte es anders sein - laviert und meint, man könne ja für gut Ausgebildete den Familiennachzug erlauben. Eine Zweiklassenlösung also. Die EU schliesst eine solche zu Recht ebenfalls aus. Die Ausländer haben zu unserem Wohlstand beigetragen, ohne sie würde die Schweiz stillstehen. Sie haben auch unsere Kassen gefüllt: Zum Beispiel in die AHV, die jetzt wieder nicht mehr auf lange Zeit gesichert ist. Und, und, und…
Ich habe Nein gestimmt und bin zutiefst geschockt über das Ergebnis, auch wenn ich es habe kommen sehen. Ich schäme mich nicht für den Entscheid, denn er ist Ausdruck der direkten Demokratie, und die Beweggründe für das Nein waren längst nicht immer xenophob, wie jetzt manche Besserwisser aus dem Ausland behaupten. Dies zu glauben, ist nun wirklich zu simpel. Aber ich schäme mich immer mehr für die Mentalität der Schweizerinnen und Schweizer, die sehr gerne bereit sind, die illegalen Gelder aus dem Ausland entgegen zu nehmen, die selbstverständlich vom Zutritt zum Freien Markt und von den Ausländern im Land profitieren wollen, aber immer weniger bereit sind, die Konsequenzen dafür zu tragen. Und ich schäme mich für Christoph Blocher, der in seinem Triumph nur Worte der Häme und der Abschätzung findet für die Romandie und die andere Hälfte der Schweiz, die Nein gestimmt hat.
Die Skepsis gegenüber der EU hat nicht nur in der Schweiz, sie hat überall bedrohlich zugenommen. Sie ist meiner Meinung nach sehr ernst zu nehmen. Sie zwingt - hoffentlich - die EU, die eigene Legitimation zu überdenken und ebenfalls nach neuen kreativen Lösungen innerhalb der eigenen Reihen zu suchen.
Aber sie wird hart bleiben müssen in der Frage der PFZ, wenn sie nicht will, dass jetzt die Rechtsnationalen aller Länder Oberwasser erhalten.
Gegenüber der Schweiz ist sie deutlich am längeren Hebel. Dass sie nun die Verhandlungen für das institutionelle Abkommmen und für ein Stromabkommen ausgesetzt und die Forschungsgelder, von denen die Schweiz in hohem Masse profitiert hat, nicht mehr fliessen lässt, mag bloss eine Drohgebärde sein im Hinblick auf kommende Verhandlungen. Es kann gut sein, dass die Suppe nicht so heiss gegessen wird, wie sie gekocht wurde. Aber es kann auch sein, dass es irgendwann ein böses Erwachen gibt. Für alle.
Warten wir ab.