Montag, 14. November 2016

Wider den Krieg gegen die Vernunft

Die Wahlhelfer Trumps waren Angst, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Sexismus. Das zeigt, wie dünn die Decke der Zivilisation nach wie vor ist und vielleicht immer sein wird. Wie sollen wir darauf reagieren?
Links und rechts werden jetzt die alten Rezepte hervorgezogen, Marxismus und Nationalismus sind wieder zu Gegenspielern geworden, obwohl beide Theorien versagt haben und für ihr Versagen Abermillionen Menschen geopfert wurden.
Noch fehlen neue, taugliche Rezepte, die es für eine Gesellschaft braucht, die vielschichtiger, komplexer, offener geworden ist. Noch gibt es keinen neuen Gesellschaftsentwurf, der den ebenfalls komplexer werdenden Anforderungen der Zukunft gerecht wird. Einige Ansätze dazu gibt es, z.B. das bedingungslose Grundeinkommen oder sharing economy. Aber das sind erst Ansätze.
Was in den USA passiert ist, bahnt sich in Europa schon lange an. Analysiert man die Trump-Wählerschaft, zeigt sich ein ähnliches Bild:
Globalisierungsverlierer: Entgegen ersten Annahmen, haben nicht "die Armen“ Trump gewählt. Im Gegenteil, diejenigen mit einem Einkommen unter 50000 Dollar im Jahr haben für Hillary Clinton gestimmt. Bei den so genannten „Globalisierungsverlierern“ geht es demnach nicht in erster Linie um ökonomische Kriterien (das selbstverständlich auch, aber nicht nur). Eigentlich geht es um Angst. Angst vor der Ungewissheit einer Zukunft, die immer unüberblickbarer und unsicherer wird, Angst vor einer Welt, die sich in rasantem Tempo verändert, schneller, als wir das verdauen können. Angst vor Klimawandel, neuen Technologien, Herausforderungen, denen wir uns nicht mehr gewachsen fühlen. Angst vor Job- oder Status- oder finanziellem Verlust. Ängste, welche die Populisten gezielt zu schüren wissen, um sie danach machiavellistisch zu bewirtschaften.
Vielleicht nicht gerade Angst, aber zumindest ein unsicheres Gefühl haben zurzeit wohl die meisten Menschen, nicht nur die sog. Globalisierungsverlierer, wer immer damit gerade gemeint ist. Zu diesen Verunsicherten gehören auch diejenigen, die etwas zu verlieren haben, besonders in der westlichen Welt, in Europa und ganz besonders in den USA.
Weisse Mittel- und Oberschicht: Die Angst, Privilegien an eine multikulturell sich verändernde Gesellschaft zu verlieren, ist gross. Bei diesem Teil der Wählerschaft ging und geht es um den Abwehrreflex gegen diese Veränderung, die zwar schon immer stattgefunden hat, aber nicht im selben Tempo wie heute. Das gilt nicht nur für die USA. Die genau gleich begründete Abwehrhaltung kennen wir hier gegenüber Flüchtlingen. 
„Working class": Der Begriff „working class“ fasst heute in Amerika eine breite, untere Mittelschicht zusammen. Darunter die patriotisch-konservative Landbevölkerung und die bildungsfernen Hillbillys, die glauben, die Freiheit zu verteidigen, indem sie eine Waffe tragen. Zur „working class“ gehören aber auch diejenigen, deren Einkommen – im Gegensatz den höchsten – seit Jahren nicht mehr gestiegen sind. Das heisst: Fast alle. Auch bei uns. Oekonomisch betrachtet gehört heute auch das städtische Prekariat zur „working class“: Kreative, Kulturschaffende, KleinunternehmerInnen. Der Begriff "working class" ist ein unscharfer, ideologisch besetzter Begriff, den die Linke gerne verwendet, obwohl sie damit ein falsches Bild vermittelt.
Tatsächlich zur Arbeiterklasse im klassischen Sinn gehören die Industriearbeiter des
"Rust Belt":
Die Industriearbeiter - deren Arbeitsplätze verloren gegangen sind -, die früher demokratisch gestimmt haben, waren bei dieser Wahl offenbar das Zünglein an der Waage. Zumindest sehen das viele Kommentatoren so. Die ArbeiterInnen versprechen sich Hilfe und neue Jobs von Trump, obwohl sie vermutlich diejenigen sein werden, die als Erste erkennen müssen, dass sie sich von ihm zu viel versprochen haben.
Bibel Belt: Die in den USA zahlreich vertretenen militanten Abtreibungsgegner, all die Bigotten, Evangelikalen, Kreationisten und wie sie alle heissen, haben in Hillary nicht weniger als den Teufel gesehen. In Europa spielt Religion zwar eine weniger entscheidende Rolle, aber die Irrationalität ist hier genauso weit verbreitet.
„Frauen“: Eine Lehre, die ich aus dieser Wahl gezogen habe: Weil Frauen anders sozialisiert sind als Männer, gibt es auch keine stark entwickelte frauenbündlerische Solidarität. In ihrer Gesamtheit bilden die Frauen das ganze Spektrum menschlicher Überzeugungen ab. Feministische Anliegen, Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit – aller, nicht nur der Frauen –, sind längst noch nicht Realität. Nirgends auf der Welt. 
„Männer“: Hillary Clinton war die Vertreterin meiner Frauengeneration, die sich zum Ziel gesetzt hat, die gläserne Decke zu durchbrechen. Dafür hat Hillary ein Leben lang hart gearbeitet. Sie wusste, sie braucht dafür ein Netzwerk und hat es systematisch aufgebaut, denn sie kannte die Spielregeln der Macht. Sie hat nach diesen Regeln gespielt und dabei Fehler gemacht. Einem Mann verzeiht man solche Fehler – und noch viel mehr, Trump lässt grüssen –, einer Frau nicht. Eine Frau, die an die Macht will, ist noch heute vielen Männern - und Frauen - suspekt. Sexismus hat viele Formen. Aber das ist hier nicht der springende Punkt. Hillary Clintons Schicksal war es, die Vertreterin einer Epoche zu sein, die jetzt zu Ende geht. Sie kam zu spät.
Mein Fazit: Es gibt keine typische Trump-Wählerschaft, so wie wir das vielleicht gerne hätten. Seine Anhängerschaft geht querbeet durch alle Einkommens- und Bildungsschichten. Auch AkademikerInnen haben ihn gewählt. Natürlich stand am Schluss die republikanische Wählerschaft mehrheitlich hinter der Partei, aber entschieden haben die Nicht- und WechselwählerInnen. Und wer bei uns mit den Leuten darüber spricht, der wird feststellen, dass auch hier viele seine Wahl begrüsst haben, von denen es man es nicht gedacht hätte. Allen voran natürlich die Börsenspekulanten, die Investoren, die Unternehmer, die auf günstige, steuerliche Bedingungen hoffen, die Banken, die sich weniger Regulierungen versprechen.
Deutlich geworden ist dagegen der tiefe Graben zwischen Stadt und Land, den wir auch kennen. Er ist Ausdruck des Kulturkampfs zwischen Tradition und Moderne. Und genau darum geht es meiner Meinung nach.
Die Partei, die das als erste begriffen hat, war die SVP. Strategisch clever hat sie den Begriff „Volk“ für sich gepachtet, ihm ein ländlich-patriotisches Image verpasst und verbal den anders denkenden Teil der Bevölkerung ausgeschlossen, meist in diffamierender Weise. Als Gegenpart zum „Volk“ hat sie das Feindbild einer so genannten „Elite“ geschaffen, die je nach Bedarf in „classe politique“ oder „Establishment“ oder „Linke“ oder „Gutmenschen“ umgetauft werden kann. Solcher Begriffsmissbrauch gehört zur Spezialität der Demagogen, er wird dann gefährlich, wenn er von der Gefolgschaft unreflektiert übernommen wird. (Blocher und Köppel und ihre Thiels und Göläs lassen grüssen). Mit dieser Strategie sicherte sich die SVP den grösstmöglichen Stimmenanteil und den Themenlead. Damit ist sie zum Vorbild für die europäische Rechte geworden.
Die egoistische Gier, die im Casinokapitalismus salonfähig geworden ist, und das Versäumnis der Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, wirksame Massnahmen gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung zu unternehmen, obwohl dies durchaus möglich gewesen wäre, rächen sich jetzt. Die Folgen sind noch nicht absehbar, aber aller Voraussicht nach sehr gefährlich. Die bereits seit einiger Zeit wankende Stabilität gerät noch mehr ins Trudeln. Und der Trend, Lösungen von „starken Männern" zu erhoffen, nimmt zu. Wir befinden uns sozusagen in einer regredierenden Phase der Menschheit.
Niemand weiss, was die Wahl Trumps tatsächlich bringen wird. Trump ist eine Wundertüte.  Die ersten Dekrete, die er unterzeichnet  hat, lassen erahnen, in welche Richtung es gehen wird. Genau in die Richtung, die er angekündigt hat: wirtschaftlicher und politischer Isolationismus, gekoppelt mit einem rücksichtslosen, uneingeschränkten Neoliberalimus, der alles niederreisst, was die Regierung Obama gegen die permanente Obstruktion der Republikaner erreicht hat: Obama care, Klimaschutz, Bankenregulierung etc. etc. Kurzfirstig wird Trump erfolgreich sein, weil er die Mehrheit im Senat und im Repräsentatenhaus hinter sich hat und nicht zuletzt auch, weil er von Obama eine gesunde Wirtschaft erbt, die es ihm erlaubt, das angekündigte Investitionsprogramm schnell umzusetzen. Langfristig wird seine Politik massiven Schaden anrichten, den dannzumal vermutlich wieder hochverschuldeten USA und der Welt. Aber das kümmert ihn nicht, ausbaden müssen das erst seine Nachfolger. Für ihn gilt nur eines: Trump first.
Der Moment ist gekommen, Widerstand zu leisten. Widerstand gegen die Rückkehr des Nationalismus. Widerstand gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen irrationale Feindbilder jeglicher Art. Aber auch Widerstand gegen falsch verstandene politische Korrektheit, die letztlich dazu führt, ausgerechnet diejenigen Ideale zu schwächen, für die man einsteht.
Ich bin eine urbane Linksliberale, eine Feministin und Atheistin. Freiheit und Demokratie, Selbstverantwortung und Rationalität sind mir wichtig. Ich wünsche mir eine offene, solidarische Gesellschaft in einem Rechtsstaat, der die Würde und die Recht aller garantiert. Das sind keine idealistischen, sondern rationale, im Laufe der biologischen und geistigen Evolution enwickelte Werte. Werte der Aufklärung. Sie sind nach wie vor das bestmögliche Rezept, das Zusammenleben zu regeln in einer Welt, die sich gerade rasant verändert und dabei immer enger wird. Rationalität bedeutet, hinzuschauen und diese Realität auszuhalten.
Als Antwort auf die europaweite Zusammenarbeit der Rechtspopulisten entstehen, ebenfalls europaweit, parteipolitisch ungebundene Gegenbewegungen. Allen gemeinsam ist das Bekenntnis zu den Menschenrechten. Diese bilden das Fundament jeder offenen, freien, demokratischen Gesellschaft. Ich halte sie für die wichtigste zivilisatorische Errungenschaft überhaupt. Sie aufzugeben wäre für mich nicht nur die Bankrotterklärung meiner eigenen Wertvorstellungen, es wäre so, als ob ich freiwillig das Tor öffnete für die zahlreichen Feinde der Demokratie, die bereit stehen, die Macht zu übernehmen.
Empfehlenswerte Literatur zum Thema:
- Michael Schmidt-Salomon: „Die Grenzen der Toleranz. Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen.“ (Piper 2016)
- Branco Milanovic: "Die ungleiche Welt". Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht. Suhrkamp 2016

Freitag, 23. September 2016

Wo liegt meine Toleranzgrenze?

Sollen Burka und Niqab verboten werden? Ist diese Frage überhaupt relevant?
Ich weiss, angesichts der wenigen Totalverschleierten in unserem Land scheint es müssig, darüber überhaupt nachzudenken. Und selbstverständlich weiss ich auch, dass ein solches Verbot die Probleme der Muslimas, die eine Burka unfreiwillig tragen, nicht lösen wird. Ich würde auch allen anderen Argumenten dagegen völlig zustimmen, gäbe es da nicht einen wesentlichen Punkt, der für ein Verbot spricht. Nämlich das fundamentale Menschenrecht auf die unverletztbare Identität eines jeden Menschen, ob Frau oder Mann, definiert im Artikel 1 und 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948:
http://www.humanrights.ch/de/internationale-menschenrechte/aemr/text/
Um allfällige Missverständnisse zu vermeiden: Es geht dabei weder um Burkinis, noch um Hijab oder Chador oder wie die Schleier alle heissen, sondern ausschliesslich um die Totalverschleierung des Gesichts, also um Niqab und Burka. Das heisst, es geht um ein Gebot, das nur muslimischen Frauen auferlegt ist, um eine Kleidervorschrift also, sei sie nun religiös oder gesellschaftlich begründet, die in einem liberalen, demokratischen Staat nichts zu suchen hat. Egal, ob diese Frauen ihr Gesicht freiwillig verhüllen oder nicht. Im einen Fall ist es eine Überstrapazierung meiner Toleranz, im andern Fall - und das ist der springende Punkt - ist es eine Verletzung der Grundrechte. Wer gezwungen wird, öffentlich sein Gesicht zu verschleiern, dem resp. der - denn es betrifft nur Frauen - raubt man(n) ihre Identität.
Ich weiss, es gibt Niqab- resp. Burkaträgerinnen, die sagen, dass sie damit glücklich seien und sie mit Stolz tragen würden. Mir kommt das ein bisschen vor, wie das Kind, das seinen Vater liebt, obwohl er es dauernd schlägt. Ausserdem: Den Burkabefürworterinnen stehen diejenigen Musliminnen gegenüber, die sich dagegen wehren, oft unter Lebensgefahr,
Ehrlich gesagt, wäre ich manchmal auch froh, ich könnte mein Gesicht verhüllen. Aber im Gegensatz zur Burkaträgerin kann ich meinen Schleier wieder abnehmen, wann und wo immer ich will. Das ist der ganz grosse Unterschied.
Die befohlene Totalverschleierung verletzt mich ganz konkret als Frau, als politische Feministin und als freie Bürgerin. Sie verletzt mich, weil das – wohlgemerkt: vorgeschriebene - Verleugnen der öffentlichen Identität des weiblichen Teils einer bestimmten Gesellschaft nicht meiner Vorstellung eines freien Lebens und einer selbstbestimmten Persönlichkeit entspricht.
Mit andern Worten: Ich will nicht vor lauter political correctness und wohlmeinender Toleranz die eigenen Werte verraten. Ich will für diejenigen Werte, die mir wichtig sind, einstehen dürfen. Toleranz gehört dazu. Aber es gibt auch Grenzen der Toleranz. Diese Grenzen zu ignorieren heisst, die Bedeutung der Toleranz insgesamt zu banalisieren.
Nicht alle westlichen Werte sind für mich schützenswert. Aber es gibt solche, die wir zwingend verteidigen müssen. Manche werden jetzt sagen: Religiöse Toleranz gehört dazu. Ja. Aber die von einer feudalistisch patriarchalen Männergesellschaft befohlene, totale Gesichtsverschleierung der Frauen hat mit Religion nichts zu tun, sondern mit männlichem Machtanspruch.
Ich bin Atheistin und Freidenkerin. Ich weiss, dass Freiheit und Demokratie relativ sein können, je nach historischem Hintergrund. Die Menschenrechte jedoch halte ich für die wichtigste Errungenschaft einer zivilisierten Gesellschaft. Ich will nicht zulassen, dass ausgerechnet sie auch nur noch relativ sein sollen. Da hat meine Toleranz ihre Grenze erreicht.
(Wikipedia)-Link zur Geschichte der Menschenrechte:
https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenrechte